Johann Georg Hamanns Beziehung
zum Kreis von Münster
 
 
 
  Bewegten Herzens und beklommen über die Größe der Ehrung danke ich der Amalie von Gallitzin-Stiftung für die Auszeichnung und den Vorrednern ... für ihre Worte.1) Es ist mir wirklich eine große Ehre und Freude, daß ich jetzt anläßlich der Verleihung des Amalie von Gallitzin-Preises über die Beziehung Johann Georg Hamanns zum Kreis von Münster etwas berichten kann. Seit 20 Jahren habe ich mich mit diesem christlichen Denker, dem "Magus in Norden", beschäftigt und seine Gedanken erforscht, und dadurch ist mir die Stadt Münster immer wichtiger und ihr Name immer wohlklingender geworden. Denn Hamann starb 1788 hier auf einer Reise. Bemerkenswerterweise wurde er aber als Lutheraner von seinen hiesigen katholischen Freunden bestattet. Das war ein wirklich ökumenisches Ereignis, das dieser Stadt sehr würdig war. Denn Münster ist als Stadt des Westfälischen Friedens bekannt. Daß Hamann hier nach 140 Jahren so herzlich aufgenommen wurde, ist für mich ein gutes Zeichen und gehört selbst zur Geschichte dieser Stadt des Friedens. So möchte ich Ihnen jetzt gerne mitteilen, daß auch bei Hamanns Beziehung zum Kreis von Münster der Friede im eminenten Sinne eine wichtige Rolle spielt.
 
 
1. Der Kreis von Münster "als eine katholische Variante des Pietismus"
 
  Der Kreis von Münster ist durch die Initiative des Ministers und Domvikars Franz Fürstenberg entstanden, bald aber durch seine Zusammenarbeit mit der Fürstin Amalie von Gallitzin weiter entwickelt worden. Um diese beiden Pole kreisten andere Persönlichkeiten, wie der Priester Overberg, Franz Kaspar Bucholtz u.a. In Hamanns Briefen kommt zwar der Name Bucholtz am häufigsten vor. Das Kerngeschehen in Hamanns Beziehung zum Kreis von Münster ist aber ohne Zweifel die geistliche Begegnung Hamanns mit der Fürstin Amalie von Gallitzin. Hamann hat der Fürstin bei ihrer religiösen Entwicklung beigestanden. Welche Rolle er dabei gespielt hat, wird später skizziert. Zuallererst soll darauf eingegangen werden, welche Bedeutung der Kreis von Münster" in der geistigen Konstellation im Deutschland des 18. Jahrhunderts hatte?
  Nach den Ausführungen von Karlfried Gründer gehörte er als "eine katholische Variante des Pietismus" in die große Bemühung der Zeit, "das Christliche aus der Tiefe der Subjektivität wiederzugewinnen"2). Von diesem Blickwinkel aus möchte ich auch Hamanns Beziehung zum Kreis von Münster betrachten. Was aber ist Pietismus, und welche Rolle spielte er im späten 18. Jahrhundert?
  Philipp Jacob Spener, der Begründer des Pietismus, wollte den Glauben der Reformation wieder herstellen. Mit seinem Reformprogramm "Pia desideria" wollte er die einzelnen Angehörigen der lutherischen Kirche wieder zum gläubigen Leben zurückführen. Der Pietismus entstand somit als eine innerkirchliche Erneuerungsbewegung des Luthertums. Unter diesen Vorzeichen wurden Speners Nachfolger, besonders die Hallenser Pietisten, eher im gesellschaftlichen Bereich aktiv und gründeten mehrere pädagogische Organisationen und Anstalten. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, daß gerade hierin der Pietismus einen Schritt weiter ging als die Reformation.
  Für die Pietisten war das Motto der Reform nicht mehr Luthers "Rechtfertigung", sondern die "Wiedergeburt" des neuen Menschen. Sie bemühten sich, jenseits des Prinzips der Alleinwirksamkeit Gottes, um die "innere" Erfahrung des Menschen. Darin lag vom Ansatz her eine Abweichung von der Reformation, was die Pietisten in die Nähe der Aufklärung rückte. Die Aufklärung trachtete nämlich in ganz ähnlicher Weise nach der "inneren" Ratio, dem Vernunftvermögen. Im Streben nach persönlicher Gotteserfahrung unter den Pietisten kam also gerade das aufklärerische Selbstverständnis des modernen Ich zum Ausdruck. Der Lebensgang des Gläubigen wurde nämlich als ein allmählich aufwärts steigender Prozeß betrachtet. Parallell dazu erfolgte die Säkularisierung dieser pietistischen Frömmigkeit, die sich in der Literatur als "empfindsame" Lebenshaltung jener Zeit spiegelte.
  Man legte auf Erziehung sowie auf innere Bildung großen Wert, aber in bezug auf das eigene Selbst hatte man ein ambivalent-schwankendes Gefühl: auf diese beiden Seiten der damaligen Frömmigkeit ist hier zuerst hinzuweisen. Wie verhielt sich Hamann zu diesen Tendenzen seiner Zeit?
 
 
2. Hamanns Werdegang
 
1) Hamann und der Pietismus
  Hamann wurde 1730 als Sohn eines Wundearztes in Königsberg geboren. Von Jugend an stand er unter dem Einfluß des Pietismus, wenn auch diese Beziehung wechselnde Akzente annahm. Besonders in seiner Studienzeit finden wir bei ihm wirklich pietistisch-aufklärerische Züge mit dem Ideal eines harmonisierenden Ausgleichs, der den damaligen Geist der Stadt Königsberg widerspiegelte.
  Schon früh hatte er sich für verschiedene Wissenschaften interessiert. Bei seiner weitläufigen Lektüre konnte er aber keinen ordnenden Mittelpunkt finden. Gleiches gilt für sein Studium an der Universität Königsberg, das er zuletzt ohne irgendeinen Abschluß beendete. In dieser Zeit erfreute er sich jedoch fruchtbarer Freundschaften: Gemeinsam mit seinen Freunden publizierte er eine monatliche Wochenschrift namens "Daphne", wo er in seinen Beiträgen das wahre "Vergnügen" des Glaubens pries. Mit seiner Ansicht über die Glückseligkeit der Tugend, die er vor allem den Frauen zuschrieb, offenbarte sich Hamann als typischer Autor der "Empfindsamkeit".
  1752 wurde er Hofmeister in Livland, später dann in Kurland. Seine gesteigerte Aktivität verkehrte sich leicht in Melancholie. Solche Stimmungswechsel waren an sich für die damalige junge Generation charakteristisch. Dieses zwiespältige Selbstgefühl seiner Jugend war eben ein Ausdruck der spätpietistischen Frömmigkeit, die zwischen Selbsterhöhung und -erniedrigung schwebte. Hamann predigte in der "Daphne" die Harmonie der Tugenden. Aber sein Leben näherte sich einer Krise, die ihn innerlich zur Verzweiflung zu bringen drohte.
  Seine Melancholie erreichte bei seinem Aufenthalt in London einen absoluten Höhepunkt. In seiner Verzweiflung suchte er freundschaftliche Hilfe, aber vergebens. Beim Bibellesen, in dem er einen letzten Halt suchte, hörte er "die Stimme des Blutes in seiner Tiefe seufzen", die das Blut des schuldlos erschlagenen Christus rächen wollte. Er erkannte sich selbst als Kain, als Mörder Christi. Hamann nennt dieses Ereignis "die neue Geburt Christi in unseren Herzen". Diese Wendung bezeugt, neben anderen Formulierungen, seine Nähe zum Pietismus. Aber seine Bekehrung hatte eigentlich mit pietistischen Vorstellungen nicht viel gemein. Denn sie war nicht die Folge eines mystisch-subjektiven Verlangens nach einem religiösen Erlebnis. Hamann verstand dieses Ereignis ganz als Werk Gottes.
  Das läßt sich auch an seinem Selbstbekenntnis zeigen: Nach der Bekehrung verstand er sich immer noch als "ein Leviathan". Er übernahm sein Leben somit in aller Gebrochenheit und Dunkelheit und war von dem Bewußtsein ganz durchherrscht, diese nicht aus eigener Kraft überwinden zu können. Denn er war sich nun der Verkehrtheit seines bisherigen Lebens bewußt, die der Grund all seiner Angst und Unruhe gewesen war. Seine bisherige Religiosität, d.h. seine konventionelle Frömmigkeit, wurde von ihm nun als Feindschaft gegen Gott erkannt. Er fand zugleich diese Sünde in Christus gekreuzigt. Dieses Ereignis veranlaßte seine vollständige Lebenswende. Sein religiöses Selbstvertrauen war zerbrochen. Es war nicht mehr sein Teil, sich selbst zu reinigen und sittlich aufwärts zu steigen. Hamann vertraute nunmehr auf die Alleinwirksamkeit Gottes und fand in ihr den wahren Frieden.
  Nach dieser Selbsterkenntnis blieb ihm kein Raum mehr für eine Lebensweise, die sich asketisch sebstprüfend oder -peinigend um das Heil bemühte. Die lediglich nach innen gerichtete Frömmigkeit der Spätpietisten, die durch die Erniedrigung unaufhörlich das erhöhte, verklärte Selbst suchen, war gerade der Ursprung der ängstlichen Ambivalenz dieser halbsäkularisierten Zeit. Hamann hatte diesen Weg nun endgültig verlassen.
 
2) Hamann als Autor
  Mit dem eben geschilderten Ereignis war das Bedürfnis seiner Studentenzeit, sich vor einem Publikum darzustellen, ganz verschwunden. Er, der vorher an der Überhebung seines Ichs krankte, nahm nun demütig die Pflicht des Zeugen auf sich. Wie kam es nun aber dazu, daß ein gehorsamer Zeuge zum "Philologus crucis" oder "Magus in Norden" wurde?
  In Hamanns Londoner Schriften findet sich ein Begriff, der den Kernpunkt all seiner Überlegungen markiert, nämlich die "Herunterlassung Gottes". Diese "Herunterlassung" wird zum Schlüsselbegriff für das gesamte von Gott ausgehende Geschehen. Wirklichkeit heißt für Hamann die trinitarische Herunterlassung Gottes. D.h. der Geschöpf- und Sprachcharakter der Wirklichkeit wird bei ihm als Erniedrigung Gottes zum Menschen mit dem Christusgeschehen verbunden.
  Als Zeuge ahmt Hamann treu diesen Charakter der göttlichen Herunterlassung nach. Er läßt sich nämlich zur Situation des Gegenparts herab und paßt sich ihr in seinen eigenen Schriften an.
So entstand in der Tat die Erstlingsschrift "Sokratische Denkwürdigkeiten".
  Angesichts der Gegner, die ihn für das Lager der Aufklärung wiederzugewinnen versuchen, will Hamann seinen Glauben nicht legitimieren und greift vielmehr zu den Lieblingswaffen des Gegners: Sokrates war damals der Held der aufklärerisch gesinnten "starken Geister". Mit dem Verständnis der Wahrheit als objektivem System der Lehrsätze hielten die damaligen Aufklärer die sokratische Unwissenheit für ein theoretisches Verfahren der methodischen Skepsis. Hamann hält ihnen ein anderes Sokratesbild wie einen Spiegel vor und führt sie dadurch vor die freie Entscheidung, ob sie die wirkliche Gestalt ihres Selbst erkennen wollen oder nicht. Mit der Unwissenheit des Sokrates deutet Hamann seinerseits ein prägnantes Nichts an, wodurch das Leben erst seinen vollen Sinn erhält. Denn die Unwissenheit des Sokrates als Lebensfrage einer angefochtenen Existenz ist mit dem christlichen Glauben gleichen Ursprungs. Mit diesem existentiellen Sokratesbild ist Hamanns Schrift keine bloße Apologie sondern eine "mimische Arbeit", die einerseits von einer "indirekten Mitteilung" durchdrungen ist, andererseits mit dem sich als rein einbildenden Vernunftglauben hart ins Gericht geht.
  Dieses Verfahren, das Hamann "Metaschematismus" nennt, gilt nicht allein für seine Erstlingsschrift, sondern für seine gesamten Schriften. Die auf den ersten Blick eher als Tarn- und Versteckspiel zu bezeichnende Mimik seiner Schriften gründet in seiner Auffassung von der göttlichen Offenbarung als Herunterlassung zum Dialog, wonach die Wahrheit für die Menschen immer kommunikativen Charakter hat. Das Verstehen des Menschen kann, nach Hamann, nur aus Gesprächen entspringen. Herder, Kant, Lessing, Mendelssohn, Jacobi u.a. - der Gegenpart war je nach Denker und Situation verschieden. Jedes Werk Hamanns enthält eine Einladung zum Dialog, die sich u.U. in kühne Herausforderungen verwandelt. Diese Herausforderungen können auf denjenigen provokativ wirken, der mit ihnen gleichgültig oder mit Vorurteilen belastet umgeht. Sie schrecken jeden anmaßenden Versuch im voraus ab. Für den richtigen Leser spricht Hamann aber emphatisch durch seine mimische Sprechweise und will ihn zur Selbstfindung der Wahrheit bringen. So kann man Hamanns Autorschaft in groben Umrissen schildern.
  Als er dem Kreis von Münster begegnete, glaubte er seinen Auftrag fast vollendet zu haben. Mit der Schrift "Entkleidung und Verklärung" hatte er schon die Rechenschaft über sein Leben abgelegt.
 
 
3. Der Kreis von Münster und die Fürstin Gallitzin
 
  Wie bereits angedeutet, sind beim Pietismus, der zuerst von Spener und August Hermann Francke vertreten wurde, zwei Hauptmerkmale zu unterscheiden. Er suchte einerseits den Reformationsglaube aus der Tiefe der Innerlichkeit wiederzugewinnen. Deshalb ging es ihm um das Neugeborensein im persönlichen Leben. Andererseits versuchte er aber sein christliches Ideal so zu verwirklichen, daß er sich später immer mehr auf konkret-sozialfürsorgerische Reformprogramme konzentrierte und, wie schon erwähnt, mehrere pädagogische sowie gesellschaftliche Organisationen und Anstalten gründete.
  Der Kreis von Münster war eine katholische Bewegung. Es wäre ein verkehrter Versuch, wenn man den geistigen Ort des Münsterkreises unmittelbar mit dem Begriff Pietismus gleichsetzen würde, zumal der Pietismus selbst verschiedene Richtungen und Tendenzen umfaßte. Mit dem Wort Pietismus wird hier aber im weitesten Sinne die Atmosphäre der Zeit bezeichnet, die als Frömmigkeit bzw. als ihre säkularisierte Form der "Empfindsamkeit" das allgemeine Bewußtsein der Gesellschaft im späten 18. Jahrhundert bestimmte.
  Fürstenberg und die Fürstin Gallitzin sind unleugbar zwei Hauptfiguren des Münsterkreises. Das Reformprogramm, das ursprünglich von Fürstenberg stammte, fand seine unentbehrliche Ergänzung, als die Fürstin Gallitzin nach Münster umsiedelte. Von diesem Zeitpunkt an kreisten alle Freundschaften und Beziehungen um diese beiden Pole, wie eine Ellipse um ihre beiden Fokusse. Pädagogische Anstalten und die innere Frömmigkeit, die sie füllen sollten: diese zwei Merkmale des Pietismus sind tatsächlich für diese beiden Hauptfiguren des Münsterkreises charakteristisch.
  Der Kreis von Münster verflocht sich mit der Atmosphäre der Zeit, d.h. mit einer pietistisch gefärbten Frömmigkeit. Literaturhistorisch läßt er sich zwar als "Übergang einer reifen Aufklärung und Empfindsamkeit zur romantischen Restauration"3) bestimmen. Er nahm aber bis zu seiner Spätphase eine Sonderstellung ein, indem er sich von andreren Entwicklungen, wie dem Sturm und Drang oder der Klassik, fernhielt und an seiner eigenen religiösen Orientierung festhielt. Sogar hinter dem restaurativen Katholizismus der deutschen Romantik, der sich zur kirchlichen Tradition in Theologie und Philosophie auf neue und eigene Weise verhielt, blieb er in seiner naiven Frömmigkeit zurück. Er kannte somit weder das Problem noch die Thematisierung der Subjektivität, die nicht allein das christliche Denken, sondern die Neuzeit überhaupt in Anspruch nehmen sollten. Diese Problematik für die Zeitgenossen deutlich zu machen, war, wie vorher kurz geschildert, Hamanns eigentlicher philosophisch-theologischer Auftrag.
  Nun skizziere ich kurz das Leben Fürstenbergs und dann das der Fürstin. Fürstenberg wurde 1729 in Herdringen geboren. 1747 immatrikuliert er sich an der artistischen Fakultät des Kölner Jesuitengymnasiums, und 1750 setzte er seine Studien in Salzburg fort. Die Universität Salzburg zeichnete sich damals durch die Pflege der Leibnizschen Philosophie wie der neuen Naturwissenschaften aus. Somit ist zu vermuten, daß Fürstenberg hier wesentliche Anregungen für seine eigenen Bildungsanstalten in Münster gewann. 1751 reist er nach Italien ab. In seinen kurzen Studienjahren hatte sich bereits seine geistige Stellung im Sinne einer Vereinigung aufklärerischen Gedankengutes mit orthodoxen Vorstellungen angebahnt.
  1762 wurde Fürstenberg zum Geheimen Konferenzrat und Minister ernannt. Nach dem Siebenjährigen Krieg begann er eine Reihe seiner Projekte. Dabei ist insbesondere in unserem Zusammenhang der Beginn einer umfassenden Bildungsreform zu nennen. Er gründete die hiesige Universität. Und in der Schulordnung des Jahres 1776 verdeutlichte er sein Bildungsanliegen eindringlich. Das Werk sollte die innere Konsolidierung des "Kreises von Münster" widerspiegeln. Es kam Fürstenberg darauf an, dem Klerus, der die Schulen betreute, mit der neuen Tendenz, einschließlich des Gedankens der Aufklärung, grundsätzlich vertraut zu machen. Bis ins hohe Alter hinein, d.h. auch nach seiner Entlassung aus dem Ministeramt, ist das Schulwesen sein Lieblingsobjekt geblieben.
  Es war gerade dieses Schulwesen im Geist Fürstenbergs, das die Fürstin Gallitzin nach Münster zog, als sie für ihre beiden Söhne nach guten Erziehungsmöglichkeiten suchte.
  Fürstenberg und Hamann gehen in ihrem Urteil über die Haltung der Fürstin freilich auseinander. Für den Katholiken Fürstenberg heißt Heiligkeit Vollkommenheit. Das ist ein Ziel, das man durch eigene sittliche Bemühungen, durch asketische Leistung, erreichen muß. Dieses moralische Vervollkommnungs- ideal hat aber auch der Pietismus mit der Aufklärung gemein. Was Fürstenberg somit an Amalie als lobenswürdig ansieht, ist in Hamanns Augen äußerst problematisch.
  Amalie wurde 1748 in Berlin als Tochter des Generals Graf von Schmettau und seiner zweiten Frau geboren. Also vor 250 Jahren, genau 100 Jahre nach dem Westfälischen Frieden. Obschon reformiert getauft, wurde sie von ihrer Mutter im katholischen Glauben erzogen. Aber diese Erziehung scheint ziemlich oberflächlich gewesen zu sein. Mit zwanzig Jahren heiratete sie den Fürsten Dimitri von Gallitzin, den russischen Gesandten in Den Haag. Er war als Freund Diderots Anhänger der französischen Enzyklopädisten. Obwohl die Fürstin nach der Verheiratung weiter am Hof lebte, erhoffte sie sich von dieser Ehe auch, die versäumte literarische und philosophische Bildung nachholen zu können. Aber nach der Geburt ihrer beiden Kinder, verließ sie enttäuscht ihren Gatten. Mit vierundzwanzig Jahren entzog sie sich entschlossen dem zerstreuenden Leben der Hofgesellschaft, um sich der eigenen Bildung und der Erziehung ihrer beiden Kinder zu widmen. Gleichzeitig schloß sie sich dem niederländischen Philosophen Frans Hemsterhuis an, der sie als geistiger Führer in seine Art des Philosophierens einführte, die sowohl der Antike als auch dem neueren naturwissenschaftlichen Denken verpflichtet war, aber mit der christlichen Glaubenswelt wenig zu tun hatte.
  Im Jahre 1779 siedelte Amalie von Gallitzin nach Münster über. Dieser Entschluß wurde sehr plötzlich gefaßt. Die Fürstin wollte Fürstenbergs pädagogische Einrichtungen kennenlernen, um dort eine Art praktischer Erziehungsanleitung für ihre Kinder zu erhalten. Aus dem kurzen Besuch wurde ein dauernder Aufenthalt. Damit war aber gleichzeitig eine religiöse Problematik verbunden. Von der Fürstin wurde erwartet, daß sie gewisse religiöse Konsequenzen ziehe, daß sie sich zumindes ernsthaft um die katholische Religion bemühe.
  Die Bindung zwischen Fürstenberg und der Fürstin bildete fortan die Grundlage des "Kreises von Münster". Die Fürstin gewann bald bestimmenden Einfluß in ihrer neuen Umgebung. Ihre bevorzugte Stellung zeigte sich vor allem in den Beziehungen zu auswärtigen Freunden und Besuchern. Die Freundschaft mit Franz Heinrich Jacobi ist hier an erster Stelle zu nennen. Jacobi vermittelte eine Reihe von Verbindungen des Kreises von Münster zu anderen Gestalten des geistigen Lebens in Deutschland, etwa zu Goethe, zu Claudius u.a. Auch bei Hamanns Besuch in Münster spielte er eine ausschlagggebende Rolle.
 
 
3. Hamann und die Fürstin Gallitzin
 
1) Vorgeschichte
  Seit den 70er Jahren stand Hamann im Briefwechsel mit den Freunden des Münsterkreises. 1782 vermittelte Claudius einen Brief Jacobis an Hamann. Damit begann der bedeutende Briefwechsel zwischen Hamann und Jacobi, worin Hamann die wichtigsten philosophischen und thologischen Gedanken seiner letzten 6 Jahren äußerte. Im Frühjahr 1784 trafen sich Kleuker und Jacobi bei der Fürstin Gallitzin in Münster und sprachen eines Abends über Hamann. Die Fürstin war sehr begierig, etwas von ihm zu lesen. Sie rieten ihr aber ab. So kam sie auf anderem Wege zu Hamanns Schriften. Beim nächsten Treffen im Sommer 1784 fand Jacobi einige Schriften von Hamann bei der Fürstin, die sie von Franz Kaspar Bucholtz geliehen hatte. Bucholtz, eine sehr eigenartige Person im Kreis, war um diese Zeit von Hamanns Schriften stark bewegt. Er schrieb sogar Hamann einen Brief. Darin äußerte er, neben seinem Dank für die Erfahrung, die ihm Hamanns Schriften vermittelt hatte, den merkwürdigen Wunsch, daß dieser ihn als Sohn annehmen solle. Etwas verwundert schrieb Hamann, erfreut über dieses Vertrauen, einen rührenden Dankesbrief.
  Unter seinen Brieffreunden war bekannt, daß Hamann sich wegen seiner wirtschaftlichen Notlage schwer mit der Erziehung seiner Kinder tat. Bucholtz, als vermögender Mann, entschloß sich, ihm zu helfen. Im November 1784 bekam Hamann von ihm eine Anweisung von 4000 Taler auf ein Königsberger Bankhaus. Aus großer Not gerettet, strömte er von Dankesworten über. Um die Jahreswende wurde er dann zur Gräfin Kayserlingk gerufen. Denn die Fürstin Gallitzin hatte bei dieser Jugendbekannten um Nachrichten über Hamann gebeten. Auf ihre Bitte hin sammelte er mit viel Mühe seine zerstreuten Schriften und schickte sie nach Münster. So kam die Verbindung Hamanns mit den Münsteranern zustande.
  Hamann erkundigte sich zunächst bei Jacobi nach der Fürstin Gallitzin und dem "Sohn" und Wohltäter Bucholtz. Von der Fürstin erfuhr er etwas sehr Wünschenswertes. Sie fing an, in der Bibel zu lesen, "und gewann es allmählich zu lieb"4). 1783 litt sie an einer schweren Krankheit. Dieses Erlebnis führte sie zu einer Einkehr und rückte sie dem christlichen Glauben näher. Über Bucholtz hörte Hamann leider nicht immer so Positives: Bucholtz galt als übersensibel, überspannt, beinahe hypochondrisch usw. Hamann begann dennoch einen unmittelbaren Briefwechsel mit ihm und konnte selbst feststellen, inwieweit diese Charakterisierung zutraf. Bei verschiedenen Gelegenheiten schrieb er an Bucholtz und beriet ihn immer sehr teilnahmsvoll.
  Bucholtz wollte eigentlich Hamann in Königsberg besuchen. Als dieser Plan wegen Bucholtz' Heirat scheiterte, verfiel Hamann darauf, seinerseits nach Westen zu fahren. War es doch sein langgehegter Wunsch gewesen, etwa Herder in Weimar zu besuchen. Sowohl die Brieffreunde als auch die Münsteraner bestärkten ihn in diesem Entschluß. Ein Hindernis blieb noch zu beseitigen. Hamann mußte als Beamter unbedingt Urlaub nehmen. Ihm selber war das erst gelungen, als sich der Bruder der Fürstin, der Graf Schmettau, in Berlin darum bemühte. 1787 wurde Hamann schließlich pensioniert. Damit war er zufrieden und begab sich gleich auf die Reise. Sein Sohn Michael und der Freund und Arzt Lindner begleiteten ihn. Denn Hamann war schon damals krank.
  Nach der langen, für einen Kranken sehr schwierigen Reise kam er am 16. Juni 1787 in Münster an. Bucholtz und seine Frau empfingen ihn herzlich, und auch die Fürstin Gallitzin kam, um ihn zu begrüßen. Bei dieser ersten Begegnung gewann Hamann einen sehr guten Eindruck von der Fürstin. Nach einer Woche besuchte auch Jacobi Münster. Da wurde ausgemacht, daß Hamann zunächst Jacobi in Düsseldorf besuchen sollte.
 
2) Das "ökumenische Begebnis"
  Anfang November war Hamann wieder in Münster. Erst jetzt fing er an, mit dem Kreis von Münster nähere Bekanntschaft anzuknüpfen. Nun lernte er auch Fürstenberg persönlich kennen, und ihr Gespräch steigerte sich manchmal zu richtigen Diskusssionen. In diesen Tagen war es auch, daß zwischen Hamann und der Fürstin Gallitzin Freundschaft geschlossen wurde. Dabei ist das Datum des 30. November 1787 besonders wichtig. Zusammen mit dem Ehepaar Bucholtz besuchte Hamann die Fürstin in Angelmodde. Und das Gespräch, das er dort mit Bucholtz führte und das schließlich mit einem Streit endete, hinterließ bei der Fürstin einen entscheidenden Eindruck. Darüber ist in ihrem Tagebuch folgendes überliefert:
  "Bei dieser Gelegenheit war es, daß Hamann folgende Worte sagte, die mir tief ins Herz fuhren: Wenn ich einen Samen in die Erde säe, so bleibe ich nicht stehen und horche und sehe zu ob er auch wachse, sondern ich säe und gehe von dannen, weiter zu säen und überlasse Gott das Wachen und Gedeihen ... Ich fühlte mich durch Hamanns erhabenen Grundsatz gerührt und getroffen, als wenn ein helles Licht in meine Seele käme und erleuchtete mit einmal meine schon längst gefühlte dunkel Ahnung ...: ' Unglaube ist es im Grunde, versteckter Unglaube und Genußsucht, was Deine vielen Anstalten und Sorgen [herbeiführt], um den Samen, den Du säest, zu behorchen und wachsen zu sehen!' " 5)
  Dieser Satz, der nur beiläufig geäußert und eigentlich an Bucholtz gerichtet war, gab also den Anlaß zur engeren geistigen Beziehung zwischen der Fürstin und Hamann.
  Die Fürstin reflektierte über Hamanns Satz. Aber sie mußte schließlich ihn selbst um eine schriftliche Erklärung bitten. Hamann wohnte damals in der Wasserburg zu Wellbergen, um einem peinlichen Zusammensein mit Bucholtz auszuweichen. Von dort ging er sofort auf die Bitte der Fürstin ein und schrieb einen vorbehaltlos-offenen Brief. In der feuchten Wasserburg verschlimmerte sich Hamanns Krankheit dramatisch. Erst im Februar 1788 konnte er sich erholen und an Ostern wieder nach Münster zurückkommen. Von März an stand er in stetem Umgang mit der Fürstin. Körperlich einigermaßen wieder hergestellt, konnte er sie oft besuchen. Die geistlichen Gespräche, die er und die Fürstin miteinander führten, müssen sehr tief und anrührend gewesen sein. Die Fürstin schrieb erst später über sie in ihrem Tagebuch. Für sie war Hamann zum geistlichen Berater, zum Seelsorger geworden. Sie hielt ihn sogar für einen echten väterlichen Freund.
  Hamanns Krankheit wurde immer schlimmer. Deshalb wollte er nach Hause, nach Königsberg zurück. Trotz der Warnungen der Ärtzte entschloß er sich, gerade am Tag seiner Ankunft vor einem Jahr abzureisen. Er konnte es nicht. Aber seine Wille war fest. Die Fürstin nahm von ihm Abschied, ohne seinen so nahen Tod zu ahnen. Am frühen Morgen des 21. Juni 1788 trat Hamann eine Reise in die Ewigkeit an.
  Als Hamann starb, ließ er ein Problem zurück, von dem er selbst nichts geahnt hatte. In der katholischen Stadt Münster gab es nämlich damals noch keine Grabstätte für Protestanten. Um allen eventuellen Schwierigkeiten des Kultus zu entgehen, zog die Fürstin Gallitzin es vor, ihn in ihrem Garten zu begraben. Am Abend des 21. Juni trugen Fürstenberg und Overberg den Leichnam Hamanns selbst zum Wagen, der ihn von Bucholtz' Haus am Alten Fischmarkt zur Grünen Gasse brachte. Dort im Garten der Fürsten bestattete man Hamann. Das war wirklich ein "ökumenisches Begebnis".
 
 
5. Bedeutung
 
1) Begegnung und Seelsorge
  Den Höhepunkt der Beziehungen zwischen Hamann und dem Kreis von Münster markiert zweifellos die geistliche Begegnung Hamanns mit der Fürstin Gallitzin. Was für eine Bedeutung hat nun diese Begegnung?
  Als die Fürstin nach Münster übersiedelte, lebte sie noch weiter im Geist Hemsterhuis'. Sie fühlte sich also mit dem Griechentum, vor allem dem Platonismus vertraut. Sie hatte Fürstenberg gegenüber im voraus deutlich erklärte, es liege ihr fern, zum Katholizismus überzutreten. Aber 1783 kam sie auf dem Krankenbett dem christlichen Glauben näher. An der Schwelle des Todes entdeckte sie, daß sie bisher unzufrieden, stolz und ehrsüchtig gewesen sei. Sie war zwar noch nicht so weit, sich dem christlichen Glauben ganz zu öffnen. Künftig wollte sie sich selbst verleugnen. Die Fürstin ging nun den Weg des Verzichtes weiter mit der ihr eigenen Willenskraft. Es handelt sich bei dieser Entwicklung vom Stolz zur Demut aber allein um eine Verlagerung des Vervollkommnungswillens. Wenn sich die Fürstin früher in der Bildung hatte vervollkommen wollen, so jetzt in der Verachtung der Gelehrsamkeit und der Schöngeisterei. Von ihren katholischen Freunden in Münster wurde sie um dieses Strebens willen bewundert.
  Gerade in dieser Zeit hörte die Fürstin im Gespräch mit Kleuker und Jacobi von Hamann. Als sie nun in Hamanns Schriften selber las, sah sie, daß ihrer bisherigen Gedankenwelt ein neuer Sinn gegeben wurde. "Was mich vollends gewaltig an Hamann zog, waren unsere gemeinschaftliche Freunde, Platon, Homer, Sokrates, und vor allem die heilige Schrift, von dem sein ganzes Wesen imprägniert ist. Mit dieser ... hat Hamann sich in meiner Vorstellung dergestalt ... eingewebt, daß ich wie an einem heimlichen Ansatze von Liebe zu ihm krank wurde [...]"6) Hamanns Schrift "Sokratische Denkwürdigkeiten" hatte das Leben und die Gedanken des Sokrates mit dem christlichen Glauben verbunden und in ihm einen Propheten, ja sogar einen Prototyp Christi gesehen. Die Fürstin verstand diese Schrift eben in diesem Sinnne. Sie erwartete zweifellos Hamanns Ankunft in Münster mit außerordentlichem Interesse.
  Sie fühlte sich dann auf dem Weg zum christlichen Glauben durch Hamann zum entscheidenden Punkt gebracht. Hamanns Wort vom 30. November hatte die Fürstin ins Herz getroffen. Sie wiederholte den Eindruck auch in einem Brief an Fürstenberg, aber mit der folgenden Anmerkung: "Viel Edler, weit uber meine wachtsame sorglichkeit, Finde ich diese art seyn, aber ich Kann so noch nicht seyn. Gott will mich Vermuthlich noch eine weile auf meinem kleinlichen dornichtern Pfad, zu meiner reinigung Führen."7) Die Fürstin war durch Hamanns Wort getroffen, aber fühlte, daß sie ihren Weg der Vervollkommnung noch weiter gehen müsse. Hamann verstand somit das eigentliche Problem der Fürstin und ihre Not besser und tiefgehender als die anderen Münsteraner, ja als sie selbst. Er konnte ihr in ihrer Not helfen, weil er selbst einmal eben denselben Weg gegangen und sogar in den Abgrund der Verzweiflung geraten war.
  Liebevoll, aber nicht ohne Strenge, baute er ihren Stolz ab, der bei ihr eher die Gestalt der Demut annahm. Ihr Versuch, sogar in der Selbstverleugnung vollkommen zu sein, war nach Hamanns Worten eigentlich "Unglaube, an Wahrheit oder vielmehr Zweifelsucht an Wahrheit und Leichtgläubigkeit des Selbstbetrugs"8). Auf die Symptome ihres Vervollkommnungstriebs hinweisend, führte er sie zum Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes. Der Gehalt dieser seelsorgerischen Fürsorge Hamanns gehört zweifellos zum evangelischen Glaubensdenken. So kommt Fritz Blanke in einem Aufsatz zu dem Schluß, daß Hamann in den ganzen Begebenheiten seinem Luthertum treu geblieben sei, während die Fürstin, sei es bewußt oder nicht, auf dem Weg nach Wittenberg gewesen sei. Das ist freilich etwas zu grob gesagt. Das war gerade das, was Hamann nicht wollte. Er wollte die Fürstin nicht bekehren. Karlfried Gründer sieht diese Sache doch gerechter: "Der lutherische Zöllner Hamann hat die katholische Fürstin Gallitzin in die Tiefe des christlichen Glaubens eingebracht - den sie künftig geklärter und ruhiger in der Form ihrer Kirche verwirklichen konnte."9) In seinem Brief an die Fürstin zitierte er in der Tat vor allem aus den Petrusbriefen.
  Als "der unerschüttlichste Grund einer sichern Ruhe" weist Hamann darauf hin, "(1.Petr.V.6) alle unsere Sorgen auf Den zu werfen, der uns zugesagt hat, daß Er für uns sorgen, weder uns noch die unsrigen verlaßen und versäumen, (Matth.XXVIII.20) den Geist und Einfluß Seiner Gegenwart uns gönnen wird - alle Tage bis an der Welt Ende. (1.Petr.II.2) Wir haben an der logischen lautern Milch des Evangelii ein festes prophetisches Wort, (2.Petr.I.19) deßen Leuchte die Dunkelheit unsers Schicksals vertreibt bis der Tag anbrechen und der Morgenstern aufgehen wird."10)
  Hamann spricht sehr deutlich aus eschatologischer Sicht, daß der Grund der Geduld und Hoffnung ausschließlich im Handeln Gottes liege, und daß die Machenschaften des Menschen davor nichts seien. Er will aber darauf hinaus, daß die Fürstin selbst auf ihrem eigenen Weg zur Wahrheit komme.
  Siegfried Sudhof weist auf eine frühere Briefstelle der Fürstin hin und nimmt an, daß die Fürstin schon im Februar 1784 auf dem Krankenbett zu der Überzeugung gelangt sei, die sonst erst Hamanns Einfluß zugeschrieben wird. Es ist zwar nicht zu leugnen, daß ein solches Zeugnis im Glaubensverständnis des Kreises von Münster schon vorhanden war. Die Fürstin brauchte aber doch Zeit, bis sie selbst das hier geahnte Problem der christlichen Hinwendung wirklich ins Auge fassen sollte, indem sie es als das in Gott schon gelöste annahm. Die Einsicht in die Tiefe des christlichen Glaubens wurde ihr erst dort als Ereignis zuteil. Und als solches wurde es ihr nur einmalig durch die persönlichen Begegnung mit Hamann ermöglicht. Bis dahin hatte ihr Leben immer ein Ringen um klare Erkenntnis bleiben müssen. Wie immer bei jeder wahren Begegnung spielt hier das Persönliches als Existentiell-einmaliges eine entscheidend wichtige Rolle.
 
2) Freude und Frieden
  Ich habe meine Rede mit der Anmerkung begonnen, daß Hamanns Begegnung mit der Fürstin Gallitzin der Friedensstadt Münster würdig sei. Wenn man vom Frieden spricht, ist damit zunächst der politisch-gesellschaftliche Frieden gemeint. Das ist ja heutzutage ein wichtiger Teil des Begriffs. Das Wort hat aber, wie schon angedeutet, noch eine andere Implikation. Der Friede mit sich selbst, ja mit Gott, ist es, der dem Wort seinen tiefsten Sinn gibt und in der europäischen Tradition den Kern des christlichen Glaubens konstituiert. Das gilt ebenso für Augustinus in seinen Confessiones wie für Luther vor seiner reformatorischen Wende. Der junge Hamann schrieb in einer existentiellen Krise seine Londoner Schriften. Dies war ebenfalls ein Zeugnis der Suche nach dem wahren Frieden. In Briefen und Tagebüchern der Fürstin Gallitzin läßt sich eine gleiche Spur des Suchens finden. Hamann und die Fürstin: beide standen also in der christlich-europäischen Tradition der Selbst- und Friedenssuche seit Augustinus.
  Die Fürstin Gallitzin sah in Hamann die wahre christliche Demut. Sie schrieb in ihrem Tagebuch am 17. Februar 1788: "In Wellbergen ward mir an der oft beinahe übertrieben scheinenden Herabschätzung Hamanns seiner selbst manch erweckender Augenblick, insonderheit war ich einmal so glücklich und erhaschte bei ihm und durch seinen Anblick - ein hohes Bild einer christlichen Größe in Lumpengestalt, der Stärke in der Schwäche, das meine Seele begeisterte, aber auch beugte ... wahrhafte Knechtgestalt, [...]"11) Solche Niedrigkeit wurde bei Hamann erst möglich als Widerschein der göttlichen Herunterlassung. Seitdem er in London zu der ersten Einsicht in die Herunterlassung Gottes gelangt war, hatte er immer an der Position festgehalten, die Wirklichkeit der Welt als heruntergelassene Sprache Gottes aufzufassen. Diese Sprache als "Torheit" Gottes der Hybris der aufklärerischen Ratio entgegenzusetzen, war Hamanns schriftstellerischer Auftrag. Solche Konfrontation mit der vernunftgläubigen Zeit gründete sich bei ihm auf das Vertrauen in die Alleinwirksamkeit Gottes. Dieser Friede in Gott allein gab Hamann andererseits den wirklichen Frieden mit sich selbst. Das hat die Fürstin in ihm gesehen und das hat sie tief bei ihm beeindruckt. Hamann hat der Fürstin noch angedeutet, daß dieser Friede bei ihm einen eschatologischden Charakter habe, d.h. daß der Grund seiner Geduld und Hoffnung in der Zukunft Christi liege.12)
  Hamann war um 18 Jahre älter als die Fürstin und auf dem Weg der Selbstsuche vorangegangen. So scheint er hier bei der Selbstfindung und der Suche nach dem wahren Frieden eine einseitige Vorrangstellung einzunehmen. Das stimmt aber nicht ganz. Zwischen Hamann und der Fürstin wurde die Freude des Sichselbstfindens wechselseitig geschenkt, wie es bei wahren Begegnungen immer der Fall ist. In Münster war Hamann ganz er selbst. Nur daß er hier gegenüber der Fürstin sein bisheriges metakritisches Tarnspiel, das er dem Hochmut der aufklärerischen Kritik entgegengesetzt hatte, nicht mehr brauchte. Denn die Fürstin hat Hamann so verstanden, wie er verstanden werden wollte. Die Freude war also beiderseitig. Die Fürstin hat in Hamanns Worten und seiner Existenz den Grund des wahren Friedens und der Hoffnung gefunden, was ihr große Freude bereitete. Und so verstanden zu werden, war für Hamann auch eine Freude. So war dies wirklich eine Begegnung in Freude und Frieden.
  Hamanns Bestattung ist ein konkretes Zeichen, das uns eine solch aufrichtige Freundschaft veranschaulicht, eine Freundschaft in der Hoffnung, die die Verschiedenheit des Alters, des Geschlechts, des Standes und der Konfession überwindet.
 
3) Ökumene
  Hamann und die Fürstin Gallitzin: auf die ökumenische Bedeutung dieses Begegnung wurde schon mehrmals hingewiesen. Zum Schluß möchte ich mir aber erlauben, über den im eigentlichen Sinne des Wortes "ökumenischen" Charakter, d.h. über den universalen Charakter einer solchen Begegnung eine Andeutung zu machen. Hamanns Wort, das der Fürstin Gallitzin zuerst einen tiefen Eindruck machte und sie zum Nachdenken vor ihrer Konversion führte, war ein freies Zitat aus dem Jacobusbrief 5,7, ein Bild der Landwirtschaft, das mit dem Wachstum des Getreides zu tun hat. Das erinnert mich an einen ähnlichen Fall in der japanischen Kirchengeschichte .
  Dabei spielt auch ein Bild aus der Pflanzenwelt, ein Bild des Gartenbaus, eine sehr wichtige Rolle. Das Gleichnis hat im Herzen eines japanischen Jungen etwas Entscheidendes bewirkt. Der Junge hieß Kanzo Uchimura (1861-1930). Er ist bis jetzt sowohl der bekannteste als auch der wichtigste Verkünder und Schriftsteller des Christentums in Japan.
  In seiner Erstlingsschrift, "Wie ich ein Christ wurde, Bekenntnisse eines Japaners", die 1895 ursprünglich auf Englisch verfaßt und 1905 ins Deutsche, danach in mehrere europäische Sprachen übersetzt wurde, weist er anonym auf einen Philosophen und Hochschulpräsidenten hin, der ihn zur zweiten, d.h. zur wirklichen Konversion zu Christus veranlaßt habe.
  Uchimura, Sohn eines Samurai, gehörte zur ersten Generation nach der japanischen Öffnung zum Westen hin. In der landwirdschaftlichen Hochschule in Hokkaido, die im christlichen Geist eines amerikanischen Lehrers gegründet wurde, erfuhr er seine erste Bekehrung zum Christentum. Diese Rettung aus dem Heidentum verschaffte ihm jedoch keine echte Ruhe im Herzen im damaligen von ihm so bezeichneten "sentimentalischen" Christentum Japans. Die Suche nach dem wahren Frieden führt ihn zur anderen Seite des Pazifischen Ozeans, und am Ende seiner Wanderjahre begegnete er an der neuenglischen Hochschule Amherst dem Philosophen, der ihn erst auf sein wirkliches Problem hinwies.
  In einem späteren Artikel seiner Zeitschrift nannte Uchimura diesen geistigen Gönner mit Namen - es war Julius H. Seelye (1824-95) - und gab das Wort wieder, das ihn zur Erhellung des Selbst führte:
  "Herr Uchimura, Es ist nicht gut, daß Sie immer nur in Sich selbst sehen. Sie sollen nach außen sehen. Hören Sie auf, Sich über Sich selbst zu besinnen! Warum heben Sie die Augen nicht zu Jesus auf, der Ihre Schuld schon am Kreuz gesühnt hat. Was Sie machen, ist eben einem kleinen Kind ähnlich, das einen Sämling in einen Topf gepflanzt hat und ihn jeden Tag herauszieht, um zu sehen, ob der schon Wurzeln geschlagen habe. Warum vertrauen Sie es Gott und dem Sonnenlicht nicht an, und warum warten Sie nicht auf das Wachstum?"13)
  Dieser Hinweis auf das Gleichnis des Sämlings im Topf ist bei den japanischen Christen sehr bekannt. Daran habe ich sofort gedacht, als ich von Hamanns Beziehung zur Fürstin Gallitzin zum ersten Mal las. Fast hundert Jahre später und anderswo in der Welt wiederholt sich ein ähnliches Ereignis, diesmal auf dem Weg vom Heidentum zu Christus. D.h. die geistige Begegnung Hamanns mit der Fürstin Gallitzin hat einen noch breiteren Horizont als das traditionelle Verhältnis zwischen Katholizismus und Luthertum. Solch eine Begegnung ist im eigentlichsten Sinne des Wortes ökumenisch und hat einen wahrhaft universalen Charakter. Denn das Problem des sogenannten "pietistischen" Frömmigkeit, noch sachgemäßer, das Problem der "Selbstbezogenheit" ist überall da, wo man eifrig nach der Wahrheit trachtet, umso verwickelter, gerade wenn man innerhalb einer Religion ernsthaft dem wahren Selbst zu folgen versucht. Luther umriß diesen Sachverhalt mit der Definition: cor incurvatum in se ipsum, d.h. das in sich selbst zurückgewendete Herz als eigentliche Gestalt der Sünde.
  Die Einsicht, die zur Konversion, zur Befreiung aus dem in sich selbst geschlossenen Ich führt, stammt in unseren beiden Beispielen allein aus der je einmaligen, lebendigen Begegnung. Dabei bildet das persönliche Vertrauen die wichtigste Voraussetzung. Dann werden nicht nur die Verschiedenheit der Konfession, sondern alle möglichen Klüfte zwischen verschiedenen Persönlichkeiten in Gott überwunden, und die verschiedene Welten verbinden sich in der Hoffnung als ein Haus. Bei der Ökumene handelt es sich somit nicht um ein Schlagwort, sondern vielmehr um eine wahre persönliche Begegnung, wie sie einmal auch zwischen Hamann und der Fürstin Gallitzin zustande gekommen ist.
 
 
 
Anmerkungen
 
1) Der vorliegende Aufsatz wurde bei der Entgegennahme eines Sonderpreises für Literaturwissenschaften vorgetragen. Der Preis wurde mir anläßlich des 250. Geburtstags der Fürstin Amalie von Gallitzin von der gleichnamigen Stiftung verliehen. Die Preisverleihung fand um 11,00 Uhr am 29. August 1998 im Residenzschloß in Münster statt. Vor meinem Vortrag hielten die Stifterin, Frau Hildegunde Friedhoff, und die Oberbürgermeisterin der Stadt Münster, Frau Marion Tüns, eine Begrüßungsansprache. Nach der Laudatio von Professor Dr. Bernhard Gajek (Regensburg) hielt ich den vorliegenden Vortrag. Ein Teil davon, der den Münsterkreis betrifft, wurde dabei ausgelassen, weil er den Anwesenden schon bekannt war. Übrigens feierte die Stadt Münster 1998 das 350. Jahr nach dem Westfärischen Frieden.
2) Gründer, Karlfried: Hamann in Münster. In: Johann Georg Hamann. (Wege der Forschung 511), hrsg. v. R. Wild, Darmstadt 1978, S.287.
3) Gründer: A.a.O., S.287.
4) Jacobi an Hamann, 1.2. und 16.2.1785.
5) Zitiert aus: Gründer: A.a.O., S.281.
6) Fürstin Gallitzin an Jacobi, zitiert aus: Gründer: A.a.O., S.281.
7) Sudhof, Siegfried (Hrsg): Der Kreis von Münster. Briefe und Aufzeichnungen Fürstenbergs, der Fürstin Gallitzin und ihrer Freunde, 1.Teil (1769-1788). Münster 1962, S.386.
8) Gründer: A.a.O., S.282.
9) Gründer: A.a.O., S.289.; Vgl. Blanke, Fritz: Hamann-Studien. Zürich 1956, S.122.
10) Sudhof: A.a.O., S.388.
11) Zitiert aus: Gründer: A.a.O., S.282.
12) In seinen späten metakritischen Schriften hatte er diese eschatologische Hoffnung dem optimistischen Entwicklungsglauben der Aufklärung entgegengesetzt. Der Fürstin gegenüber brauchte er nicht mehr sein bisheriges Versteckspiel zu spielen, sondern teilte ihr alles direkt in der persönlichen Unterhaltung mit. Vgl. Kawanago, Y.: "Das babilonische Jerusalem." Johann Georg Hamanns Stellung zur eschatologisch-apokalyptischen Sprache in seiner späten Schaffensphase. In: The Proceedings of the Department of Foreign Languages and Literatures, College of Arts and Sciences, The University of Tokyo, Vol.XLI, No.1, 1994, S.114-159.
13) Uchimura, Kanzo: Eine Erzählung am Christabend - Meine Lehrer im Glauben. (japanisch) In: Sämtliche Schriften und Briefen, Bd.29, S.343.
 
 
 
 
---------------------------------------
In: Herder-Studien, hrsg. v. der Herder-Gesellschaft Japan, Bd.5, Tokyo 1999, S.87-105.