"Das babilonische Jerusalem"
Johann Georg Hamanns Stellung zur eschatologisch-apokalyptischen Sprache
          in seiner späten Schaffensphase
 
       (Prof. Dr. Bernhard Gajek zum 65. Geburtstag)
 
 
I
 
  "Hamann als Apokalyptiker!" - Mit diesem "gewagten" Ausdruck beginnt Paul Ernst den letzten Abschnitt seines anregungsreichen Buchs: "Hamann und Bengel".1) Nach der ausführlichen Untersuchung von Bengels Einfluß auf Hamann und dem Vergleich beider Äußerungen kommt er schließlich zu dem Resultat, Hamann im biblischen Sinne als prophetisch-apokalyptischen Verkünder zu erfassen. Obwohl Ernsts Buch mit den reichen Informationen über Hamanns Beziehungen nicht nur zu Bengel, sondern auch zum ganzen Schrifttum seiner Zeit immer noch lesenswert ist, ist es doch nicht ohne Mängel. Seine Deutung von Hamann als Prophet bzw. Apokalyptiker ist leider abstrakt, weil unbestimmt bleibt, "wem eigentlich Hamanns prophetische Botschaft gilt."2) Die Hamann-Forschung hat sich inzwischen mit seiner Beziehung zur Aufklärung intensiv beschäftigt und seinen Kampf gegen die seichte Vernunftgläubigkeit seiner Zeit deutlich dargestellt. Über die Gestalten der Gegner und Hamanns Konfrontation mit ihnen wissen wir jetzt mehr als je. Wenn wir aber in dieser Lage der Forschung immer noch von Hamanns Prophetie sprechen wollen, und zwar nicht im trivial-vagen Sprachgebrauch, sondern genau im Sinne der biblischen Prophetie, müssen wir die Bedeutung des Wortes in Hamanns Autorschaft noch genauer prüfen.3) Das gilt auch mit den Wörtern "Apokalyptik" bzw. "Apokalyptiker". Können wir Hamann Apokalyptiker nennen, seine Sprache bzw. Schriften als "Apokalyptik" oder "Apokalypse" bezeichnen?
  Es steht fest, daß Hamann selbst das Interesse an der Apokalypse bzw. an der eschatologisch-apokalyptischen Sprache lebenslang behielt. Manche seiner Schriften gipfeln im christologisch-eschatologischen Cento, der mit einem biblischen Zitat der Endzeiterwartung schließt.4) In einigen Schriften konstruiert Hamann sogar selbst eigenartige, eschatologisch-apokalyptische Bibelcentonen. Auch in manchen seiner Briefe stehen Warnungen vor der Endzeit sowie Ermahnungen dazu, und so bezeugen sie sein dauerndes Interesse an der Erfüllung der Geschichte.5) Hamanns Autorschaft läßt sich somit im Zusammenhang mit der Apokalyptik betrachten. Hat er doch vor allem das Stilbewußtsein mit der "Apokalyptik" gemeinsam. Bevor wir das prüfen, müssen wir aber den Begriff "Apokalyptik" genau bestimmen.
  Wir müssen ja mit diesem Begriff vorsichtig umgehen. Er wird heutzutage sehr grob im säkularisierten Sinn verwendet und manchmal psychologisch mit krankhaft-visionärem Ressentiment verwechselt bzw. politisch-soziologisch mit verführerisch-sektiererischem Fanatismus gleichgesetzt.6) Obwohl dieser triviale Gebrauch des Wortes "Apokalyptik" hier ganz ausgeschlossen ist und das Wort lediglich im biblisch-historischen Sinne gebraucht wird, bleibt noch einiges unsicher. Das kommt aus diesem Begriff selbst. Denn der Versuch der Definition ist bis jetzt leider noch nicht ganz gelungen. Die terminologischen Bezeichnungen "Apokalypse" oder "Apokalyptik" waren in der Zeit von Hamann noch nicht fest bestimmt. Sie wurden erst später von der modernen Bibelwissenschaft geschaffen. Seitdem wurden meistens "Apokalypse" als literalische Gattung und "Apokalyptik" als religiöse Strömung definiert. Aber allein auf die Frage, welche Schriften man zu dieser Gattung zählen soll, ist noch nicht einheitlich geantwortet worden. Je nach dem Forscher ist es somit verschieden gewesen, was man dann unter dieser Strömung verstehen und wie man sie bewerten soll. Von der Offenbarung des Johannes ausgehend, bezeichnete man mit der "Apokalyptik" zuerst einen Zweig der jüdischen und christlichen Literatur, der im Kampf mit der antitheokratischen Welt die zukünftige Vollendung des göttlichen Reiches verkündete. Die Textbasis bildeten also zunächst die biblisch-kanonischen Apokalypsen: das Buch Daniel und die Johannesoffenbarung. Dazu gesellten sich dann etliche apokryphischen Schriften (1.Henoch, 4.Esra, Sibyllinische Orakel, Testamentum der zwölf Patriarchen, Himmelfahrt des Propheten Jesaja), die aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch bedeutende Textfunde erheblich vergrößert wurden.7) Das apokalyptische Material vermehrte sich auch im biblischen Kanon selbst, wobei die in der Bibelwissenschaft angewandte Literaturkritik eine bedeutende Rolle spielte. Inzwischen aber verbreiterte sich das Feld der Forschung auf die ganze hellenistische Welt. Dadurch wurde der Begriff Apokalyptik in einem viel weiteren Sinne zur Bezeichnung einer geistig-religiösen Strömung gebraucht und nicht mehr auf ein bestimmtes literarisches Phänomen beschränkt. Dank all dieser Entwicklung herrscht nun eine so große Vielfalt der Auffassung, daß G. v. Rad einmal warnen mußte: "Wer den Begriff Apokalyptik verwendet, sollte sich der Tatsache bewußt bleiben, daß es bisher noch nicht gelungen ist, ihn auf eine befriedigende Weise zu definieren." 8) Uns liegt es somit nahe, zuerst etwa der Forderung von H. Stegemann zu entsprechen, "daß ein jeder, der diesen Begriff verwenden will, zuvor mitteilt, wie er ihn versteht".9)
  Während in der älteren Forschung der Versuch, durch die formale sowie inhaltliche Charakterisierung der Apokalyptik die überzeugende literaturwissenschaftliche Definition zu gewinnen, vorherrschend war, ist es die Tendenz der neueren Forschung, die Entstehung der Apokalyptik aus der Israel immanenten Herkunft, vor allem aus der Prophetie 10), herauszuarbeiten und dadurch den geschichtlichen Ort der Apokalyptik näher zu bestimmen. Dabei versucht man, das apokalyptische Moment bzw. dessen Ursprung in den prophetischen Schriften, die früher als das Danielbuch entstanden, immer weiter rückwärts zu finden. Dementsprechend werden die vorher für prophetisch gehaltenen Schriften wie Sacharja oder sogar Tritojesaja als zur frühen Apokalyptik gehörig betrachtet. Mehr als der literarische Charakter wird dabei der Prozeß oder die Dynamik geachtet, wie die neue, apokalyptische Eschatologie im Ringen mit der neuen Wirklichkeit aus der herkömmlichen, von Propheten stammenden Auffassungen entstanden ist.11) Demnach werden meistens das Hauptteil des Tritojesaja, Sacharja, die Jesajaapokalypse (Kap. 24-26) und Joel zur frühen Apokalyptik gezählt.
  Hier sollen nun solche neueren Ergebnisse der alttestamentlichen Wissenschaft als Ansatz vorausgesetzt werden. Das Wesen der frühen Apokalyptik ist nämlich im folgenden zu sehen:12) In der Zeit der Propheten, etwa bis in die Zeit von Deuterojesaja, hatte das isaraelitische Volk immer noch starke Sehnsucht nach der politischen Befreiung. Diesem Volk gegenüber redeten die Propheten konkret zum einmaligen Ereignis der Politik. In dieser Tradition der "klassischen" Prophetie stand auch Deuterojesaja, obwohl er schon eine neue eschatologische, universal die damalige ganze Welt umfassende Hoffnung hegte, die später von der frühen Apokalyptik übernommen wurde. Nach der Heimkehr schlägt aber die Stimmung unter dem Volk ins Gegenteil um. Die verwirklichte Befreiung hat nämlich die politische Enttäuschung gebracht, was vor allem mit der armen, soziologisch niedrigen Situation der Zurückgekehrten zu tun hat. Die Leute erwarteten nun ihre letzte Erlösung direkt von der Hand Gottes. Unter den "enttäuscht-traurigen" Leuten spricht der vom Geist Ergriffene auch nicht mehr wie die großen Propheten. Der Tröstende ist selbst der Leidende, nach der letzten Freude sich Sehnende. Dieses neue Bewußtsein der Solidarität im Leiden ist der Hauptcharakter der frühen Apokalyptik. Die Anonymität bzw. die Pseudonymität ihrer Schriften stammen ursprünglich aus diesem Bewußtsein.13) Die Tätigkeit der frühen Apokalyptik ist nun darin von der der Prophetie unterschieden, daß sie die (durch die Propheten) schon gegebenen Worte Gottes unter der neuen, veränderten Situation wieder auslegt.14) Weil ihr diese neue Auslegung vom Geist Gottes offenbart wird, heißt sie nämlich "Apokalyptik (Enthüllung)". Die Propheten legten zwar ihrerseits schon die vorigen Propheten aus. Aber der Geist, der dem Apokalyptiker gegeben wird, ist nicht mehr der Geist der Prophetie wie bei den Propheten, sondern der der Auslegung. 15) Apokalyptik heißt somit Auslegung der Prophetie, d.h. Auslegung der Auslegung. Das ist auch eines der wichtigsten Merkmale der Apokalyptik.
  Diesem neueren Stand der Forschung zustimmend, bezeichnen wir die Apokalyptik als solch eine geistig-religiöse Haltung, die zwar ursprünglich mit der Prophetie verwandt ist, die aber mit ihrem Bewußtsein, sich in einer neuen, veränderten Zeit zu befinden, und in ihrem Versuch, eine neue Situation zu bewältigen, von der Prophetie strikt unterschieden wird. Dabei sind aber noch zwei Momente zu nennen: die Solidarität mit den leidenden Niedrigen und die universale, die ganze Schöpfung umfassende Perspektive in der Endzeiterwartung. Während das erstere der gegenwärtigen Situation gegenüber eine kritisch-negative Haltung einnimmt, bietet das letztere die positive eschatologische Hoffnung auf die zukünftige Vollendung dar. Wir verstehen also den Begriff Apokalyptik im weiteren Sinne als Prozeß der Entstehung eines neuen Wirklichkeitsverständnisses, das mit der neuen Schrift- und Prophetieauslegung verbunden ist. I. Willi-Plein hat die allgemeine jüdische Tendenz nach den "klassischen" Schriftpropheten als "Apokalyptik" charakterisiert, indem er das wesentliche Merkmal der Apokalyptik in ihrer hermeneutischen Haltung, in ihrer Tätigkeit der Auslegung sieht.16) Er unterscheidet dabei nach "Entstehungssituation und Zielsetzung" zwischen "Ereignisapokalyptik" und "Beschreibungsapokalyptik". Während die erstere immer als ihren "Sitz im Leben" "eine Zeit akuter Bedrängnis" hat, wird in der letzteren "im Grunde ein weisheitliches Interesse" gezeigt. Demnach ist die obengenannte Entstehungsphase der Apokalyptik, die zur Prophetie immer noch in enger Beziehung steht, hauptsächlich als "Ereignisapokalyptik" zu bezeichnen. Wenn auf diese früheste Phase der Apokalyptik aufmerksam gemacht werden soll, dann ist es in diesem Sinne, weil dort eine Korrespondenz mit Hamanns Autorschaft zu finden ist.
  Bis jetzt wurden schon mehrere Momente als die formalen bzw. inhaltlichen Charakteristika der Apokalyptik aufgezählt, die bei den meisten Forschern Beifall gefunden hatten.17) Etliche solcher formalen Charakteristika kommen wohl auch in Hamanns Schriften vor: die Beschreibung der kosmologischen Vision, die Pseudonyme, das geheimnisvolle Wissen, die Hinwendung zu alten Traditionsstoffen usw. Solche formalen Übereinstimmungen sind uns zwar schon sehr bedeutungsvoll, aber noch nicht so überzeugend, um Hamanns Autorschaft vom Blickwinkel der Apokalyptik aus zu betrachten. Denn auch die formalen Diskrepanzen sind auffällig. Hamann teilt z.B. weder den deterministischen Pessimismus noch den spekulativen Dualismus der späten Apolalyptik. Hamann hat vor allem in dem Sinne viel mit der frühen Apokalyptik gemeinsam, daß er das Existenz- und Stilbewußtsein mit der frühen Apokalyptik teilt und zu denjenigen Parallelen aufweist, die, erzwungen von der veränderten Situation, sich mit dem Traditionsgut der Prophetie hermeneutisch beschäftigten und um ein neues Verständnis der Geschichte und deren Zweck ringen mußten. Die früheste Apokalyptik ist, wie die nationale Literatur in Europa, eine Erscheinung der geschichtlich späteren Zeit und verhält sich als solche hermeneutisch zur vorangegangenen Prophetie. Eben diesen hermeneutischen Bezug zur älterenLiteratur hat Hamann auf sein eigenes Schaffen angewandt. Hamanns Cento-Stil trägt wenigstens das "apokalyptische" Bewußtsein des in der späteren Zeit Geborenen in sich, das im Auslegen der vorangegangenen Prophetie und in deren Anpassung an die Gegenwart die eigene Sendung findet. Wenn seine Autorschaft, wie es bis jetzt oft der Fall war, prophetisch genannt wird, darf also diese existentielle Nähe zur frühen Apokalyptik nicht außer acht gelassen werden. Hamanns Absicht bei der Aufnahme des apokalyptischen Stils läßt sich dann richtig einschätzen, wenn sie auf diese Weise kulturhermeneutisch mit den biblisch-prophetischen Traditionen verglichen wird.
 
 
II
 
  Im folgenden werden vorwiegend Hamanns späte Schriften zur Betrachtung herangezogen, weil er vor allem in seiner letzten Schaffensphase die christlich-eschatologische Auffassung der Geschichte im Vergleich mit dem Judentum thematisiert und dabei mit apokalyptischen Bildern umgeht. Damit wird aber nicht gemeint, daß Hamann die Frage nach Sinn und Ziel der Geschichte erst in seinem Alter entdeckte. Das Wesentliche vom Hamanns eschatologischen Gedanken war schon früher, in seiner ersten Schaffensphase geprägt. Die "Aesthetica in nuce" war es nämlich, die in ihren eschatologisch-apokalyptischen Centonen alle wesentlichen Momente von der Hamannschen "Apokalyptik" entwickelte: "der Tag des HERRN - - - ein Sonntag, schwärzer als die Mitter- nacht 1), in der unüberwindliche Flotten Stoppeln sind 2) - - Der verbuhlteste West, ein Herold des jüngsten Ungewitters 3),- so poetisch - als es der HERR der Heerschaaren nur denken und ausdrücken kann 4), wird da den rüstigsten Feldtrompeter 5) überschmettern". 6) Durch die Assoziation der Finsternis werden Joel 3,4 und Off. 6.12 verbunden. Und Off. 6.13 samt Hiob 21,18 rufen weitere Assoziationen des Windes hervor, der im Alten Testament meistens den Boten bzw. das Gericht Gottes symbolisiert. Der Wind, der wie die Trompeten am Jüngsten Tag bläst, weist auf den wahren Sieger hin, der Poet am Anfang der Schöpfung und Erzeuger des Windes ist und der am Ende der Geschichte als Tröster erscheint: "Abrahams Freude 7) [sc. wird] den höchsten Gipfel erreichen; - sein Kelch überlaufen 8) - Die allerletzte Thräne! [...] wird GOTT eigenhändig von den Augen Abrahams 9), des Vaters der Gläubigen! abwischen --".10) In Hamanns Bibelcentonen werden alle Zitate wie rohe Stoffe nebeneinander geworfen. Hamann verzichtet von Anfang an darauf, die Bilder als Mittel seiner Beschreibung zu meistern und sie in ein einheitliches Gebilde einzuordnen. Das ist aber eigentlich die Redaktionsweise, durch die vielfältige Texte zu ihrer biblisch-kanonischen Gestalt zusammengesetzt wurden und die nun Hamann instinktiv nachahmt. Solche Bibelcentonen kommen immer wieder in Hamanns Schriften vor und gewinnen schließlich in seiner letzten Schaffensphase, vor allem im "Fliegenden Brief", das endgültige Gepräge.
  Das Interesse an der Apokalyptik hat Hamann seit seiner ersten Schaffensphase behalten. Er setzte immer den Begriff der Parusie-Erwartung als einen Schlußstein in seine Schriften. Es ist aber nicht so leicht festzustellen, wann er sich zum ersten Mal für die Apokalyptik interessierte und wie er zu solch einer Formulierung kam. Die Herkunft seiner eschatologisch-apokalyptischen Auffassung wird oft in seinem Studium der literarischen und religiösen Quellen aus dem 17. und 18. Jahrhundert gesucht, die vor allem den Jüngsten Tag zum Zentralthema haben. Josef Nadler vermutet in seiner Biographie, daß Hamanns eschatologisch-apokalyptische Vorstellungen zuerst durch die Bengel-Lektüre geprägt wurde.11) Paul Ernsts sorgfältige Arbeit will die Verwandtschaft von Hamann und Bengel zeigen und darauf hinweisen, daß Hamanns Beschäftigung mit den Schriften Bengels das wichtigste Moment sei, das ihn zu solchen eschatologischen Ausdrücken gebracht habe.12) Aber Hamanns eigene Erwähnungen von Bengels eschatologischen oder eher chiliastischen Gedanken sind, wie Ernst selbst zugibt, allzu wenig oder zu indirekt, als daß daraus eine konkrete Folgerung gezogen werden könnte 13). Die Vermutung liegt also nahe, daß Hamann schon in London die eschatologische Orientierung der biblischen Geschichte deutlich wurde, als er die ihm bei der Bibellektüre auffallenden Gedanken aufzeichnete.14) Wie seine anderen Kerngedanken, die "Kondeszendenz Gottes" sowie "Typologie" wurde auch diese Implikation bei der Lektüre der folgenden Zeit vertieft und weitergebildet. Dabei spielte Bengel sicher eine wichtige, aber keine entscheidende Rolle. Bengel verstärkte Hamanns Überzeugung und wirkte sozusagen als Katalysator zu deren Kristallisierung. In bezug auf Bengels Bedeutung für Hamann sind zwei Momente zu nennen: Hermeneutik und Eschatologie sowie Selbstbezug bei der Auslegung und Endzeitberechnung.
  Paul Ernst zeigt, daß Hamann für seine Bibelauslegung sowie für seine Geschichtsdeutung Bengels hermeneutischen Grundsatz übernommen hat: "Te totum applica ad textum: rem totam applica ad te".15) Bengel gibt dieses Prinzip in der Vorrede zu seiner Handausgabe des Neuen Testaments 1738 an. Hamann zitiert den ganzen Satz in einem Brief an den Bruder und gibt dazu eine kurze, aber wichtige Anmerkung: "Er hat einen glücklichen Ausdruck in Sinnsprüchen; einer der seinigen ist gewesen: Te totum applica ad textum: rem totam applica ad te. Es ist ein hysteron proteron in dieser Sentenz. Das erste muß das letzte".16) Bengels Forderung zur "Nutzanwendung"17), der Leser solle sich auf die biblische Berichte soteriologisch beziehen, stimmt Hamann zu, aber mit einem Vorbehalt. Er kehrt den Satz um und meint damit, daß der Leser im voraus von der Sache gefesselt werden muß, bevor er sich zum Text hinwendet. Das soll heißen, daß das Gefangenwerden durch den Geist dem Verständnis des Textes vorangeht. In diesem Sinn sagt Hamann weiter: "Je mehr der Christ erkennt, daß in diesem Buch von ihm geschrieben stehet; desto mehr wächst der Eyfer zum Buchstaben des Wortes. Die Critik ist eine Schulmeisterinn zu Christo; so bald der Glaube in uns entsteht, wird die Magd ausgestoßen und das Gesetz hört auf. Der geistl. Mensch urtheilt denn; und sein Geschmack ist sicherer als alle pädagogischen Regeln der Philologie und Logic."18) Ernst meint, daß diese Erwähnung von Hamann soweit dem Bengelschen hermeneutischen Grundsatz nichts besonders Neues hinzufüge, und sieht zwischen Bengel und Hamann keinen Unterschied, indem er sagt: "Freilich geht dann Hinwendung zum Text und Erfassen der Sache abwechselnd: Schritt vor Schritt und Hand in Hand."19) Er verkennt also, daß durch Hamanns Umkehrung des Bengelschen Satzes der Schwerpunkt anders, nämlich auf die "res" versetzt wird. Die Sache in den biblischen Berichten einerseits, andererseits aber auch das je einmalige Ereignis im persönlichen Leben werden dadurch an die erste Stelle gesetzt. Die nackten, rohen Fakten der allgemeinen sowie der individuellen Geschichte werden nun als wichtigster Ansatz erkannt, der einen zur Auslegung anleitet. Es könnte sein, daß Bengel und Hamann das gleiche meinen, aber der Akzent wird zwischen den beiden sicherlich anders gesetzt, d.h. zwischen dem Bibelwissenschaftler und dem Denker, der von der Sache her denkt. Das gilt auch für die Geschichtsdeutung der beiden. Was Karlfried Gründer in bezug auf Hamanns Typologie als Faktizität des geschichtlichen Vorbildes bezeichnet, wird hier schon angedeutet.20) Das einzelne Ereignis eines Individuums sowie des Menschengeschlechts wird von demselben Geist getragen wie die Geschichte der Bibel. Die biblische und die individuelle bzw. allgemeine Geschichte korrespondieren als Typus und Antitypus. Jedes Ereignis bleibt dabei als Faktum und ist durch kein anderes zu ersetzen. Dieser Vorzug des Faktums bei der Geschichtsdeutung ist ja eigentlich der biblisch-prophetischen Hermeneutik eigen; spielt aber auch für die früheste Phase der Apokalyptik, für die "Ereignisapokalyptik", eine sehr wichtige Rolle.21)
  In bezug auf Hamanns Verhältnis zu Bengel ist noch seine Stellung zur Berechnung der Endzeit zu erwähnen. Hamanns negatives Urteil ist überall deutlich.22) Er distanziert sich vom chiliastischen Standpunkt Bengels, der sich "durch seine chronologischen Versuche in der historischen und prophetischen Zeitrechnung berühmt gemacht" hat.23) Bengel fand in der "Zahl des Tiers" den Schlüssel für die Berechnung aller verborgenen Zeitangaben der Bibel.24) Solchem mathematisch-chronologischen Versuch begegnet Hamann mit Widerwillen: "Wenn des Herrn Zukunft gleich einem Diebe in der Nacht seyn wird, so vermögen weder politische Authentiken noch prophetische Chronologien Tag zu machen, u[nd] menschlich zu reden, wer diesen Dieb verräth, kann sich wenigstens für solche hohe Offenbarungen gewiß auf Satans Maulschellen Rechnung machen - u[nd] das ist nicht Jedermans Ding."25) Hamanns Interesse an der eschatologisch-apokalyptischen Vorstellungswelt hat also mit der Berechnung der Endzeit nichts zu tun.26) Was Hamanns Beziehung zu Bengels eschatologischen Geganken betrifft, ist ein noch wichtigeres Moment, nämlich seine universale Perspektive bei der Geschichtsauffassung zu berücksichtigen. Reiner Wild stellt fest, daß das heilsgeschichtliche Moment in Hamanns Gedanken auf die Föderaltheologie von Johannes Coccejus zurückzuführen ist. Hamann werde diese reformierte Tradition von der universalen Auffassung der Heilsgeschichte somit durch Bengel vermittelt.27) Bei Hamanns eschatologisch-apokalyptischer Sprache handelt es sich aber um die von "Adam und der Sprachverwirrung her" die ganze Schöpfung einbeziehende, universale Auffassung der Geschichte, während Bengels Auslegung der Schrift "im wesentlichen auf die Haushaltung über den einbezogenen Völkern und die Heilseröffnung seit Abraham und Mose" beschränkt wird.28)Es ist auch fragwürdig anzunehmen, daß Hamann Bengels Gedanken der "stufenweisen Entwicklung" der Heilsökonomie teile. Für Bengel ist die Johannes-Apokalypse deswegen das wichtigste Buch, weil sie den gesamten Entwicklungprozeß der Offenbarung enthält, die nach und nach zu ihrem Ende gelangt.29) Hamann liegt aber ein solcher Entwicklungsgedanke am fernsten. Für ihn haben die Zeit und Geschichte eine ganz andere Struktur; er deutet sie als Gegensatz des Gegenwärtigen und des Abwesenden an, wenn er im "Fliegenden Brief" den Geist der Beobachtung von dem der Weissagung unterscheidet.30) Hamanns Aufmerksamkeit auf den Geist der Weissagung, die er auch von der Johannes-Apokalypse gelernt hatte 31), führt ihn zu einem ganz anderen Verständnis der Geschichte als bei Bengel. Bei Hamann wird der Bezug zur Schöpfung und zur Kreatur ein sehr relevantes Moment. Bei ihm werden die Theologie der Johannes-Apokalypse, die die Geschichte des Menschengeschlechts seit der Schöpfung bis zur Parusie christologisch auffaßt, und der paulinisch-apokalyptische Gedanke von dem Wehen der Schöpfung in Römer 8,18-27 auf sehr eigenartige Weise verbunden.32) Hamann gewinnt dabei seinen apokalyptischen Stil als Form des Engagements und verhält sich dadurch höchst aktuell zu seiner Zeit. Auch hier ist es somit angemessen zu behaupten, daß Hamann die Einsicht in die universale Heilsökonomie Gottes durch seine eigene Beschäftigung mit der Bibel und deren prophetisch-apokalyptischen Schriften selbst gewonnen hat.33)
  Nadler dagegen hält den späteren Ansatz Herders für den entscheidendsten Anlaß zu der Beschäftigung Hamanns mit dem Thema Apokalyptik. Herders "Maran Atha" habe zweifellos sein Interesse an der Endzeit erneut geweckt und seine Autorschaft wieder zur Gärung gebracht.34) Hamann hat tatsächlich in mehreren Briefen dieser Zeit die Bücher erwähnt, die die Apokalyptik oder einen derartigen Themenkreis behandelten. Er sammelte selbst viele Bücher mit solchen Titeln.35) Vor allem erwartete er Herders "Apocalypsin" "mit Schmerzen"36), und nach dem Erhalt ist seine Erwartung und Sehnsucht "nicht nur erfüllt sondern auch [...] übertroffen worden." Er schrieb: "Dies ist die erste und einzige Schrift von Ihnen, die mit meinen Fibern und Nerven recht harmonirt. [...] In keiner einzigen Ihrer Schriften herrscht so eine fromme und so eine gelehrte Beredsamkeit!"37) Das hohe Lob wurde aber von einem Zweifel begleitet. "So einig ich auch mit Ihnen in der Hauptsache bin: so halt ich dennoch nicht das Buch für ganz erfüllt, sondern wie das Judentum selbst für eine theils stehende theils fortschreitende Erfüllung."38) Hamanns Zweifel betrifft Herders Grundthese, daß die Weissagung im Buch 'Offenbarung des Johannes' größtenteils schon in Judäas Krieg und Sturz erfüllt sei. "Ist sie nicht in Judäa erfüllt, so ist sie falsch; ist aber das Buch hinter der Erfüllung, unter Domitian, Trajan, Hadrian geschrieben; so ists keine Weißagung.[...] Johannes muß vor Domitian geschrieben haben; denn sonst wäre es keine prophetische Kunst gewesen, den Tyrann zu bezeichnen, der da war."39) Daraus folgert Herder, das Buch 'Offenbarung des Johannes' sei die Weissagung auf den Jüdischen Krieg und als solche vor der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 entstanden. Herders Schlußfolgerung ist logisch und sozusagen schriftapologetisch motiviert. Hamann kritisiert dieses Motiv als Neigung zur Vernünftelei, obwohl er grundsätzlich Herders Auslegung zustimmt und sie für "die wohlthätigste für die Mittelstraße eines bescheidenen Publici"40) hält.
  Für Hamann ist die "buchstäbliche Auslegung" dieses Buches nicht möglich, weil "die Erfüllung des Buchs nichts als eine Figur einer höheren Erfüllung" ist. Die "Historische Approximation", die Herder hier auf die apokalyptischen Bilder dieses Buchs angewandt hat, ist auch nicht ausreichend, weil die Bilder "immer prophetisch und geistlich und heterogen für alle Geschichte" bleiben.41) Hamann fügt hinzu, daß dieser Gedanke eigentlich für Herder nicht neu ist: In Herders Theorie sei das selbst enthalten, was Hamann meint. Herder erwähnt in der Tat, daß die Bilder in diesem Buch Metaphern sind. Die "Ebräische Poesie" sei "gleichsam ganz Symbol", usw.42) Aber Herders Auffassung der Bilder dieses Buchs ist doch anders als die von Hamann. Herder meint: "Die Offenbarung ist also [...] ein Buch für alle Herzen und alle Zeiten [...] sie hat durch alle Veränderungen und Zeitumstände das Gepräge auf sich: der Herr ist nahe!"43) So drückt Herder sein Verständnis aus, daß die Bilder dieses Buches Allegorien einer hohen Wahrheit sind. Um diese Bilder zu verstehen, glaube er genug Daten zu haben. Aber die Faktizität des einzelnen Ereignisses ist dabei im Vergleich zur allgemeinen Wahrheit von der nahen Ankunft des Herrn nicht mehr der Berücksichtigung wert, weil es einmal erfüllt und schon vergangen ist.44) Wenn Hamann aber Herder auf die "fortschreitende Erfüllung"45) hinweist, bewegt er sich in ganz anderem Zusammenhang. Er nimmt aufs neue die geschichtliche Faktizität der apokalyptischen Beschreibung ernst und macht Herder auf die ereignisartig weiterredende, gegenwärtige Kraft der apokalyptischen Bildersprache aufmerksam.46)
  Dadurch ist auch der Unterschied im Verständnis von Weissagung zwischen Hamann und Herder deutlich. Beide benutzen zwar denselben Ausdruck "Geist der Weissagung"; dessen Bedeutung ist aber zwischen beiden gründlich verschieden.47) Für Herder ist die Grundthese, daß die Weissagungen des Buches erfüllt sind, sehr wichtig. Denn sie macht für ihn die Voraussetzung der ganzen Auslegung aus: "Ist das Buch erfüllt, so muß uns die Geschichte Aufschluß geben."48) So begründet er seine These nach seinem Verständnis der Weissagung als Vorhersage. Herder, der einerseits sehr streng "gegen die arithmetischen Kannengießer der apokalyptischen Chronologie"49) steht, wird in einem anderen Sinne doch durch den "Geist der Berechnung" getrieben. Für Hamann ist aber die Weissagung das Werk des Geistes, der die Ereignisse der vergangenen Geschichte und das existenzielle Geschehnis der Gegenwart verbindet und diesem einen neuen Sinn schenkt. Hamann schreibt zwar an Herder, daß er mit diesem "in der Hauptsache" einig sei. Und er scheint sonst keinen eigenen Gedanken geäußert zu haben. Aber hat er sich wirklich nicht mit dem Thema Apokalyptik beschäftigt und keine eigene Auffassung zum Ausdruck gebracht?
 
 
III
 
  Von Herders Schrift angeregt, beschäftigte sich Hamann damals selbst mit dem Thema Apokalyptik. Das wird von mehreren Briefstellen bezeugt.1) Er nannte z.B. einige Bücher, die Begriffe wie Apokalyptik oder Chiliasmus zum Titel hatten und besonders seine Aufmerksamkeit erregten. Eines davon heißt "die Apologie der Apokalypse" (1780), deren Verfassername Franz Hartwig aber ihm nicht bekannt war.2) In einem Brief an Hartknoch schrieb er, daß er das Buch !mit dem grösten Vergnügen gelesen und jedem empfohlen" habe. Hier ist aber darauf zu achten, daß Hamann gleich danach, Luthers Hausgeist erwähnend, schrieb: "Dieses Kabbalistische Wort will ich zum Titel meines libelli machen. Es soll also heißen Scheblimini oder epistolische Nachlese eines Misologen."3) Hamann kündigte nämlich den Plan an, der sich später, zwar mit vielem Hin und Her, in "Golgotha und Scheblimini" verwirklichen sollte. Hamanns Beschäftigung mit dem Thema Apokalyptik trifft also in die Zeit kurz vor der Abfassung seiner letzten Schriften. Daraus läßt sich vermuten, daß Hamann in diesen Schriften eben das Thema behandelte. In der Tat kommt das Wort "apokalypsis" in seinen späteren Schriften auffallend häufig vor, obwohl dem Wort kein einheitlicher Sinn zugeschrieben werden kann. Dabei sind mindestens drei Bedeutungen zu unterscheiden. Am meisten verwendet Hamann das Wort im griechisch-originalen Sinn, nämlich als "Enthüllung".4) Das Wort wird dann im ironisch-persiflierenden Kontext etwa im Sinne von Sophisterei gebraucht, die schwärmend mit einem Geheimnis umgeht.5) Schließlich verwendet er das Wort "apokalyptisch" als ein Ajektiv, das auf das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung des Johannes, weist. Dabei wird meistens die endzeitliche Vollendung der Geschichte bzw. der Vorsehung mit angedeutet.6)
  Als Beweis dafür, daß Hamann sich in seiner späten Schaffensphase für die Apokalyptik interessiert hat, ist es aber noch wichtiger, daß er in den Schriften wie "Golgotha und Scheblimini" sowie "Fliegender Brief" selbst mit vielen "apokalyptischen" Bildern umgegangen ist. In diesen Schriften konfrontierte sich Hamann unter anderen mit Mendelssohn. Dabei handelte es sich für Hamann um den Problemkomplex von Hermeneutik und Politik, nämlich um das Problem, womit sich auch die biblischen Propheten sowie die frühen Apokalyptiker beschäftigten. Von Mendelssohns "Jerusalem oder über die religiöse Macht und Judentum" veranlaßt, ist Hamann in "Golgotha und Scheblimini" mit der ganzen Geschichte des Alten Testaments und im "Fliegenden Brief" mit dem Namen "Jerusalem" hermeneutisch umgangen. Dabei ging es Hamann um den Themenkomplex von Offenbarung und Geschichte. Er betonte Mendelssohn gegenüber den geschichtlichen Charakter der christlichen Offenbarung. Dort wurde für ihn das Thema Apokalyptik besonders akut. Bei der Gestaltung einiger Bibelcentonen zitierte er oft aus dem Buch Daniel sowie aus der Offenbarung des Johannes. Es ist auch ein bedeutender Wink, daß Hamann in den Anmerkungen zum "Fliegenden Brief" Luthers Vorreden für diese beiden biblischen Schriften erwähnt.7) Ist es doch ein Merkmal seines Stils, daß er immer etwas Wichtiges gerade in der Anmerkung geäußert hat. Wenn der Begriff Apokalyptik, wie oben bemerkt, im weiteren Sinne gebraucht wird, so bestätigt sich noch mehr, daß Hamann in diesen letzten Schriften viele Bilder aus den "apokalyptischen" Schriften der Bibel entnommen hat. Der Titel des "Fliegenden Briefs" wurde z.B. dem Buch Sacharja entnommen, das heute als zur frühen Apokalyptik gehörig charakterisiert wird.8) Der Vorgang, wie Hamann mit den apokalyptischen Bildern umgegangen ist, ist aber noch eingehender zu betrachten.
  1784 verfaßte Hamann "Golgotha und Scheblimini" und behandelte darin das Thema: die Bedeutung des Alten Testaments. Mit dieser Schrift kämpfte er gegen Mendelssohn. Dieser hatte sich in seiner 1783 erschienenen Schrift "Jerusalem oder über die religiöse Macht und Judentum" bemüht, die politische Emanzipation des jüdischen Volks dadurch zu erreichen, daß er zwischen Judentum und Aufklärung vermittelte. Dabei versuchte er die vernünftig-natürliche von der geschichtlich-positiven Religion zu unterscheiden und das Judentum mit der ersteren zu identifizieren. Im ersten Teil dieser Schrift unterscheidet Mendelssohn - auf Grund eines Dualismus von Handlung und Gesinnung - Staat und Religion. So sichert er sich den Ort des Gewissens. Dort habe die Gesinnung mit dem "Stand der Natur" zu tun. Mit seiner aufklärerischen Auffassung vom Naturzustand behauptet er, daß die jüdischen Gesetze mit dem "Naturrecht" übereinstimmten, das nicht zeitlich-geschichtlich begrenzt, sondern zu allen Zeiten und an allen Orten verständlich sei. Er erklärt somit das Judentum zur universalen Vernunftwahrheit.
  Hamann kritisiert, daß der Jude Mendelssohn gerade dasselbe tut, was die christlichen Neologen dem Alten Testament gegenüber tun.9) Denn Mendelssohn ignoriere die biblische Schöpfungsgeschichte, indem er die aufklärerische Auffassung von der Natur und der Gesellschaft in seiner Darlegung voraussetze. "Giebt es aber einen gesellschaftlichen Contract: so giebt es auch einen natürlichen, der ächter und älter seyn, und auf dessen Bedingungen der gesellschaftliche beruhen muß. Dadurch wird nun alles natürliche Eigentum wiederum conventionell, und der Mensch im Stande der Natur von ihren Gesetzen abhängig, d.i. positiv verpflichtet eben denselben Gesetzen gemäß zu handeln, denen die ganze Natur und vornemlich des Menschen seine, die Erhaltung des Daseyns, und den Gebrauch aller dazu gehörigen Mittel und Güter zu verdanken hat."10) In der Schöpfung ist der Mensch im Naturzustand also schon "Pflichtträger der Natur"11). Der Mensch ist somit von seinem Ursprung her sittlich bestimmt und trägt die Verantwortung für alle Kreaturen. Nach Mendelssohn ist es aber ein Naturgesetz, daß der Mensch, der im Stande der Natur unabhängig, niemandem verpflichtet und Herr über das Seinige sei, sich alles als Stoff für seine Entwicklung verfügbar macht. Solch eine unbegrenzte Selbsterweiterung entspricht aber eben dem Geist des Königs von Preußen, des "Philosophen ohne Gram und Scham", der allein wie "Nimrod" "im Stande der Natur" lebt.12) Hamann erkennt, daß der aufgeklärte Absolutismus und der damalige Rationalismus gleichen Ursprungs sind und daß Mendelssohn, ohne es selbst zu wissen, die despotische Herrschaft in Preußen gerade mit seinem Befreiungsprogramm des jüdischen Volks unterstützt. Seine Kritik gilt aber nicht allein Mendelssohn. "Ein Herr, der zu Lügen Lust hat, des Diener sind alle gottlos." Mit Spr.29,12 weist Hamann darauf hin, daß "die Sophisterey" der Herrschaft nicht nur Mendelssohns Trennung von Handlung und Gesinnung, sondern den "Misbrauch der Sprache" überhaupt verursacht hat.13) Das aufklärerische Argument gegen den Sprachmißbrauch wendet Hamann auf die Aufklärung selbst an. Dadurch zog er der Aufklärung den hellen Schleier weg, durch den sich das Zeitalter vermeintlich "gesund" zeigt.
  Hamanns Kritik an der Sprachverwirrung in der Berliner Aufklärung gründet sich auf die biblische Einheit von Sprache und Geist. Von diesem Standpunkt aus tritt er als "Metacriticus", als Aufklärer der Aufklärer hervor. Für Hamann liegt das größte Unheil der Berliner Aufklärung darin, daß dort der "natürliche Gebrauch der menschlichen Vernunft und Sprache" verachtet und "das innere und äußere Band aller Geselligkeit"14) wie bei Mendelssohn heuchlerisch gelockert wird. Das geschieht nach Hamann unter dem Einfluß einer "cynisch-sodomitischen Mundart" vom König, dem "Widersacher deutscher Aufrichtigkeit und Redlichkeit"15). Dabei höre die ursprüngliche "göttliche und menschliche Einheit" auf, so daß der Staat zum Körper ohne Lebenshauch und die Kirche zum Gespenst ohne Körper werden. Beides bewahrt weder Geist noch Leben.16) So deckt Hamann das wahre Unheil als Herschaft des "Diable der Finsternis"17) auf. Mendelssohns Projekt erkenne solche politisch-soziale Wirklichkeit schmeichelhaft an.
  In diesem Zusammenhang ist zu beachten, daß Hamann die Situation um Mendelssohns "Jerusalem" mit einem sehr originellen Bild beschreibt, das an sich eine apokalyptische Szene darstellt. "Kurz das ganze Penelopengewebe läuft auf die Behändigkeit hinaus, jedes von dem andern unzertrennliche Eins zwiefach erscheinen und widerum flugs ineinander fallen zu lassen, daß durch dergleichen Hocuspocus unter beiderley Gestalt 18) alle Augenblicke Standpunct und Gesichtskreis verrückt, der speculative Buchstäbler 19) aber auf der schmalen Tanzleine schwindlich wird - unterdessen der zwischen Himmel und Erde schwebende Epha der Theorie im Lande Sinear 20), und Jerusalem nicht fürder bleibt an ihrem Ort zu Jerusalem, sondern unter dem Meridian Babels zu liegen 21) kommt. - "22) Hamann läßt Mendelssohn zuerst als Taschenspieler, dann als Seiltänzer erscheinen und zeigt 23), daß Mendelssohn durch seine zauberische Unterscheidung zwischen Handlung und Gesinnung selbst zweifelhaft wird. Bei der schwindelerregenden Behandlung beider Begriffe werde diesem selbst schwindelig und gerate in die Sprachverwirrung. Hamann zielt aber hinter Mendelssohn auf König Friedrich II. selbst, wenn er den Ortsnamen Schinar nennt und hinzufügt, daß Jerusalem nach Babel versetzt wird. Schinar ist nämlich der Thronsitz von Nimrod, dem ersten Tyrann. Und für Hamann ist Friedrichs Berlin der Ort der Unterdrückung und Sprachverwirrung. Mendelssohns "Jerusalem" sei ein symbolisches Ereignis, das das Wesen dieser Stadt ins helle Licht stellt. So nennt er Berlin "das babylonische Jerusalem"24). Hier ist es aber sehr wichtig, daß Hamann ein Bild aus dem Buch Sacharja nimmt: das schwebende Epha, das vom apokalyptischen Engel als "Sünde im ganzen Lande"25) erklärt wird. Hamann nimmt später aus demselben Kapitel ein paralleles Bild, das mit diesem Epha ein Paar bildet, zum Titel seiner letzten Schrift: die fliegende Schriftrolle. Sein "Fliegender Brief" wird zunächst Mendelssohns Jerusalem entgegengesetzt, soll aber schließlich als "Fluch, der ausgeht über das ganze Land"26), die ganze Situation der Berliner Aufklärung richten.
  In der neuen Schrift "Fliegender Brief" setzt Hamann seine Kritik gegen Mendelssohn fort, indem er dessen Jerusalemverständnis prüft und es seiner eigenen Deutung gegenüberstellt. Hamann geht dabei mit den verschiedenen Auslegungen des Namens Jerusalem hermeneutisch um. Es handelt sich für ihn schließlich darum, "das Geheimnis des geistlichen, apokalyptischen Namens"27) zu entsiegeln.
  Am Anfang stellt er die Frage: warum Mendelssohn Jerusalem "zum Fähnlein und Lämplein"28) seiner Schrift gewählt hat. Ihm scheint eher, daß er sich dieser bei der Titelauswahl vergriffen hat. Somit schlägt Hamann vor, "Samaria würde weit angemeßener, als Jerusalem [...] gewesen seyn."29) Im ersten Teil seiner Schrift hatte Mendelssohn das Judentum für eine natürliche Religion und wolle dabei, wie die Samariter am Pentateuch, nur an der mosaischen Gesetzgebungen festhalten. Er schließe also die nachmosaische Tradition der Offenbarungen von der Wahrheit aus. Er übersehe aber, daß die Verheißungen für Jerusalem erst in den nachmosaischen Schriften ausgesprochen wurden, und gerate in den Selbstwiderspruch, indem er "die Aufschrift seines Buchs aus jenen von den Samaritern verworfenen Nationalschriften"30) berge. Bei diesem Widerspruch werde ihm auch die Einsicht in "die zeitlichen Geschichtswahrheiten der Heiligen Stadt"31) verweigert. Er verkenne nämlich, daß "die Vergangenheit der heiligen entweihten Stadt eine ausgemachte Sache"32) sei, und sei dementsprechend nicht imstande, "den Unterschied des alten, zerstörten, irdischen, von dem neuen, verklärten himmlischen Jerusalem deutlich zu erkennen"33).
  Hamann macht darauf aufmerksam, "daß in den hebräischen Offenbarungen über Jerusalem die schrecklichsten Drohungen und herrlichsten Verheißungen durch einander gehen."34) Dabei nennt er Jerusalem "des HERRN Thron und des HERRN Herde"35). Mit dieser prägnanten und apokalyptisch-paradoxen Aussage drückt er die dialektische Verbundenheit von Gericht und Gnade Gottes aus, was eigentlich auch der jüdischen Tradition bekannt ist. Haben doch die Propheten immer wieder geweissagt, daß Israel und seine "gottfeindliche" Stadt, die früher als Thron Gottes gepriesen wurde 36), zur Vernichtung des endzeitlichen Gerichts bestimmt waren. Auf der anderen Seite hat es auch zum prophetischen Amt gehört zu verkündigen, daß dieses Gericht zum Tode das Gericht zum Leben sein kann. Durch die schonungslose Vernichtung der gottfeindlichen Stadt, die überhaupt das Ende des von Gott abgekehrten Volkes bedeutet, sollen ein neues Gottesvolk und das neue Jerusalem von Gott selbst begründet werden.37)− Hamann fragt sich in der ersten Fassung, warum Mendelssohn weder die faktische noch die prophetische Bedeutung des Namens der Stadt verstehe. Durch die Unterscheidung zwischen dem Geist der Beobachtung und dem der Weissagung, die in der Erkenntnis der Wirklichkeit einander eng verbunden sind, will er den Sachverhalt ins klare Licht stellen. Der Name Jerusalem ist "ein unleugbarer Gegenstand für den Geist der Weissagung", zu deren Gebiet "alles Abwesende, der Vergangenheit und Zukunft"38) gehört. Denn "das historische und prophetische Materiale zur wahren Erkenntniß dieser abwesenden Stadt" soll somit lediglich "in und aus den ältesten Urkunden und ächten Reliquien des Judentums"39) gesucht werden. Mendelssohn wird aber dieser Geist verweigert, weil er nur auf die Gegenwart der Erkenntnis, auf den Geist der Beobachtung, aufmerksam macht. Hamann behauptet, daß Mendelssohn durch eine solche Haltung "in die zweifache Sünde seiner Väter" verfalle. Mendelssohn verschmähe nämlich einerseits "den Geist der Weissagung in den lebendigen Quellen historischer und prophetischer Wahrheit" und mache sich andererseits "hie und da ausgehauene Brunnen [...] seines Erkenntnißbaums."40) Durch die Aneignung des aufklärerischen Rationalismus werde er somit "Selbstschöpfer und Baumeister einer ihm allernächst und privative gegenwärtigen Gottesstadt"41). Dabei verwechsele er die Hauptstadt der Juden mit der von Preußen, die eigentlich Babel heißen soll.
  Es handelt sich für Hamann also zunächst keineswegs um die Konfrontation zwischen Christentum und Judentum, sondern er kritisiert Mendelssohns Verfälschung des Judentums, und zwar um Mendelssohns willen, weil dieser durch die Abstrahierung von der jüdischen Heilsgeschichte sich selbst entfremde.42) Für Hamann ist aber "die typische Bedeutung des Judentums" durch nichts zu ersetzen.43) Denn auch das Christentum setzt die prophetische Tradition des Judentums voraus. Das Judentum als Heilsgeschichte macht erst die Basis des Christentums aus.44) Die Stadt Jerusalem ist einmal von Römern rücksichtslos zerstört worden und hat in Hamanns Zeit nur als Symbol des Gerichts ihre Bedeutung behalten. Das ist das objektive Faktum der Geschichte. Mit dieser Betonung teilt Hamann sicherlich den Standpunkt Herders. Aber die Weissagung über diese Stadt ist damit noch nicht ausgeschöpft. Denn die "über Jerusalem ausgeleerten Zornschalen"45) zeugen nicht nur "von der Wahrheit der[...] einst offenbarten und längst erfüllten Strafgerichte", sondern sie sind die "Bürgschaft von dem bisher noch versiegelten Schatze der Gnaden- und Seegensverheißungen, womit Himmel und Erde schwanger gehen"46). Das vergangene Gericht über Jerusalem, die faktische Tatsache dieser Stadt versichert das Vertrauen auf die Verheißung, die apokalyptische Hoffnung auf den neuen Himmel und die neue Erde. Die !Bürgschaft" dieser apokalyptischen Hoffnung beruht für Hamann "auf Wort und That eines Mannes", der "eine allgemeine Tinctur der Unsterblichkeit gegen die Stachel des Todes 47) [...] hervorgebracht hat; damit Friede auf Erden [...], die Wideraufnahme des verlornen Sohns [...] und die Vollendung des Weltalls zur Ehre in der Höhe bereitet werden konnte"48). Mit dem Christuscento, der wiederum mit einer universalen Eschatologie endet, deutet Hamann Christi Tod und Aufstehung an und meint damit, daß ein "urkundliches Rätzel des Widerspruchs"49) im Namen Jerusalems erst von diesem richtig aufgeschlossen wird. Denn der apokalyptische Name hat "sieben inwendige und auswendige Siegel"50), die !keine endliche Kraft, ohne Löwenmuth und Lammesgedult aufzutun im stande ist."51) Hierin stimmt Hamann der Christologie der Johannes-Apokalypse zu. Das widerspruchsvolle, irdische Jerusalem steht also, nach Hamann, in Christus, d.h. im Geist der Weissagung noch einem höheren Verhältnis entgegen: dem himmlischen Jerusalem als Parusie des Herrn und Vollendung der Schöpfung. "Alles dies und überschwenglich mehr" ist in Christus "fertig zubereitet und geschmückt herabzufahren."52)
  Hamann umfaßt mit dem prägnanten Ausdruck "des HERRN Thron und des HERRN Herde" die ganze Tragweite des Namens Jerusalem: "Das eiserne Schicksal ihrer irrdischen Vergangenheit" und "die Goldberge und Diamanten- hügel 53) einer längst erwünschten und erwarteten Zukunft"54). Der Name enthält sowohl einen geschichtlich-widersprüchlichen als auch einen heilsgeschichtlich- apokalyptischen Sinn. Mendelssohn sollte eigentlich mindestens die erste Hälfte solchen Sachverhaltes bekannt sein. Steht das doch in den historischen Büchern der hebräischen Bibel geschrieben. Hamann sieht in dieser Selbstentfremdung Mendelssohns gerade die ironische Erfüllung der Weissagung über Jerusalem in seiner Zeit. Soweit sich Mendelssohn an den Namen der Stadt hält, werde er doch vom Geist der Weissagung nicht ganz ausgeschlossen. Sondern er selbst wird der Kronzeuge des Gerichts über diese Stadt, obwohl er selbst darüber gar nichts weiß. Wenn Mendelssohn nämlich darauf besteht, sein Judentum mit der Aufklärung zu identifizieren, stellt Hamann dieser Täuschung das Bild des apokalyptischen Gerichts entgegen: "Jerusalem blieb fürder an ihrem Ort zu Jerusalem; wurde aber im Sinn zum Taumelbecher, zum Laststein, zum feurigen Ofen im Holtz, zur Fackel im Stroh 55), zum Babel der religiösen Macht."56) Hier tritt die dritte Dimension der Jerusalem-Deutung deutlich in den Vordergrund: das Gericht über die gegenwärtige Berliner Aufklärung. Das Ganze wird hier aufs neue aktuell und in den gegenwärtigen Horizont der Jerusalem-Interpretation gestellt. Gericht und Gnade stehen nun in völlig neuem Zusammenhang gegeneinander.
  Sacharjas Bilder vom Gericht über Jerusalem werden wieder angewandt, und zwar mit einigen kleinen Veränderungen. Im Buch Sacharja selbst soll Jerusalem eigentlich "zum Taumelbecher für alle Völker ringsherum"57) zugerichtet werden, damit es sie "trunken" machen kann. Jerusalem solle "zum Laststein für alle Völker" werden und als "Feuerbecken im Holz" bzw. als "Fackel im Stroh" "alle Völker ringsumher"58) verzehren. Das heißt also, daß die Feinde Israels schließlich von Israel selbst gestraft und gerächt werden. Hamann erwähnt davon nichts und deutet dadurch ironisch an, daß die letzte Entscheidung lediglich auf Jerusalem selbst fällt, indem die Stadt in der von ihr selbst gewünschten Trunkenheit belassen wird - die schlimmste Strafe in der Bibel. Der prophetisch-apokalyptische Ausdruck der Ironie, wie sie z.B. in der Jesaja-Apokalypse zu finden ist 59), paßt genau zu der Situation, daß der Gerichtete sich seines eigenen Schicksals nicht bewußt ist und in seinem Optimismus bleibt. Hier werden die theologischen und literarischen Vertreter der Berliner Aufklärung fest ins Auge gefaßt, während die Kritik an dem König in den Hintergrund tritt. Die Vertreter !des un- und widerchristlichen Jerusalems in den Werkstäten und Waarenlagern der allerchristlichen Dogmatiker, Dictatoren protestantischer Kirchen, neuen Styls", die "das allen Völkern bestimmte Bethaus zu einer öffentlichen Meße und Mördergrube" entheiligen, werden damit angeklagt. Vor allem aber werden "der blinde schlafende Homer allemannischer Schädelstäte"(F. Nicolai) und dessen "höchstes Ideal und Capitolium des welschen und römischen Solipsismus" als "der ganze theologico-politico-hypokritische Sauerteig eines in den Eingeweiden grundverderbter Natur und Gesellschaft gährenden Machiavellismus und Jesuitismus" heftig kritisiert.60) Das gegenwärtige Gedeihen der Berliner Aufklärung ist mit der Lage der Stadt identisch, die als "Thron und Stuhl des Thiers" zum Jüngsten Gericht bestimmt ist.61) Das Gerichtswort weist aber darauf hin, worauf sich die Hoffnung stützen kann: "Selbst der güldene Kelch Babel, der alle Welt truncken macht, ist in der Hand des HERRN."62)
  Wie gerade gezeigt, beschäftigt sich Hamann in diesen letzten Schriften mit vielen Bildern der prophetisch-apokalyptischen Schriften. Die Bilder werden dabei mit höchst aktuellem Bezug auf Hamanns Gegenwart, vor allem auf die Berliner Aufklärung, aufgeladen und konstituieren so selbst etliche eschatologisch-apokalyptische Perspektiven von Gericht und Hoffnung. Hamann ist sich dabei seiner Sendung höchst bewußt, der Sendung als "Ausleger der Ausleger"63). Es handelt sich nämlich bei Hamanns Umgang mit der apokalyptischen Sprache nicht bloß um eine Auslegung der prophetisch-apokalyptischen Schriften, sondern um die kulturhermeneutische Einsicht in die Wirklichkeit der politisch-gegenwärtigen Geschichte. Hier werden (anders als bei Herder) die faktische Erkenntnis der Gegenwart und die prophetisch-hermeneutische Schau in die Zukunft sowie in die Vergangenheit sehr eng verbunden. Hamann geht es weder um die mathematisch-chronologische Berechnung der Zukunft (Bengel) noch um die historisch-faktische Feststellung der Vergangenheit als Vorstufe des sentimentalischen Fantasiesprungs (Herder), sondern um die metakritische Konfrontierung mit der Gegenwart im Horizont der christologisch-eschatologischen Hoffnung. Apokalyptik ist kein Selbstzweck, sondern geht immer mit einer Metakritik des kritischen Zeitgeists parallel. Apokalyptische Bilder sollen dazu dienen, die gegenwärtige Situation aufs eindrucksvollste zu erhellen. Hamanns apokalyptische Sprache ist auf diese Weise mit seiner hermeneutisch-kritischen Tätigkeit fest verbunden.
 
 
IV
 
  In diesen letzten Schriften nennt Hamann den Namen seines Schülers überhaupt nicht. Er hat aber das hier selbst ausgeführt, was er in bezug auf die Apokalyptik Herder gegenüber geäußert hatte. Hamann war darin mit Herder einig, daß die Weissagung der Johannes-Apokalypse einmal im Jüdischen Krieg verwirklicht wurde, so daß die Visionen in dieser Schrift Tatsachen der Vergangenheit beschrieben. Hamann war aber, anders als Herder, der Meinung, daß die Bedeutung der apokalyptischen Gesichte dadurch noch nicht endgültig bestimmt war, und daß sie weiter die Verwirklichung in der Zukunft erwarteten. In der Schrift "Fliegender Brief" wählt Hamann das Bild Jerusalems zum Gegenstand der Auslegung. Die Weissagung über diese Stadt wird dabei nicht als solche betrachtet, die, wie bei Herder, einmal endgültig verwirklicht und dadurch schon vergangen war, so daß sie für die weitere Geschichte nur noch als "Allegorie" eine allgemein-symbolische Bedeutung hat. Sondern das eschatologisch-apokalyptische Wort über Jerusalem behält bei Hamann immer noch die Kraft des "typologischen" Ereignisses, das sich in der Geschichte aufs neue vergegenwärtigt und dadurch wiederholt aktuell wird.1) Hamann sieht, daß die Weissagung tatsächlich in seiner Zeit als Gericht über Berlin verwirklicht ist. So legt er die Worte des apokalyptischen Gerichts sowohl faktisch als auch prophetisch-gegenwärtig aus und verfolgt dadurch eine Möglichkeit der Apokalyptik in seiner eigenen Zeit. Die gegenwärtige Bedeutung der Gerichtsbilder wird bei ihm vom futurisch-endgültigen Ereignis der Geschichte bestätigt, das aber auch vom Vergangenen seine Bürgschaft erhält. In Hamanns Auslegung der Apokalyptik werden auf diese Weise die futurische und die gegenwärtige Eschatologie miteinander verflochten.
  Hamanns eigenartige Auffassung der Geschichte und Eschatologie ist mit seinem Stil fest verbunden. Als philologische Nachfolge der !Herablassung Gottes" hat sich Hamann die biblisch-prophetische Redeweise angeeignet, die er sogar bei der Auseinandersetzung mit der damaligen ästhetisch-aufklärerischen Literatur verwendet. Reden heißt für ihn, wie bei den Propheten, Weissagen. Hamanns Stil ist vor allem durch seine prophetische Gleichnishaftigkeit geprägt. Alle Bilder, die er aus mehreren Traditionen, vor allem aber der biblischen, entnommen hat, ordnet er dabei typologisch eben diesem Zweck unter, so daß sie eschatologisch- teleologisch neubelebt werden.
  Zur Charakteristik des prophetischen Stils sind zwei Gesichtspunkte hervorzuheben: Abschreckung und Mitteilung. Die Dunkelheit, mit der das göttliche Wort sich deckt, bleibt Geheimnis vor der menschlichen Vernunft. Wenn sich diese auch von dem Rätsel bezaubern läßt, wird doch jeder anmaßende Versuch des Erkennens bestraft. Die menschliche Hybris wird in der Ratlosigkeit bzw. in der Selbstzufriedenheit allein gelassen. Dieses prophetisch-erhabene Wort wird aber dem niedrigen Menschen anvertraut, wobei seine abschreckende Wirkung potenziert wird. Wie sich Hamann Kant gegenüber in der Gestalt des Ungeheuers "Leviathan"2) zeigte, bildet die "Höllenfahrt der Selbsterkenntnis"3) unentbehrlich einen Kern der biblischen Mitteilung. "Genie ist eine Dornenkrone und der Geschmack ein Pupurmantel, der einen zerfleischten Rücken deckt."4) Diese stilistische "Knechtsgestalt" kann als "Torheit Gottes" abstoßend wirken. Die biblische Botschaft muß aber immer derart sein, weil ihre Mitteilung nur durch die "Empfindung", d.h. durch die existentiell-gleichzeitige Sympathie möglich wird, die die mit-leidende Nachfolge mit sich bringt.5) Biblische Offenbarung und existentielle Empfindung - daraus stammt also die Hamannsche Stilmischung von genus sublime und genus humile, womit er der Rede der Propheten nachfolgt.6)
  Dabei ist aber noch ein Moment zu berücksichtigen. Hamann verwendet seine Bilder nicht nur prophetisch-eschatologisch, sondern auch apokalyptisch. Der prophetische Stil wurde bei den früheren Apokalyptikern zur eigenartigen Bilderrede entwickelt, indem sie die einmal gescheiterte Prophetie in ihrer neuen, veränderten Situation, meistens in der Not, auszulegen versuchten. Der geheime Charakter der Offenbarung wurde verstärkt, indem die endzeitlich-universale Vollendung allein durch Gottes Hand immer stärker erhofft wurde. Was bei der Feststellung einer solchen Entwicklung einen Leitfaden bieten könnte, wäre die Problematik des apokalyptischen Stilbewußtseins, die mit dem Wandel des Geschichtsverständnises untrennbar verbunden ist. Die Apokalyptiker glaubten nämlich in einem völlig veränderten Zeitalter zu leben, das von ihnen eine neue Auslegung der Prophetie verlangte. Obwohl die Apokalyptiker, wie früher bei den klassischen Propheten, politisch-sozial engagiert waren, hatten sie nicht mehr die Wirklichkeit vor sich, die der Gegenstand der konkreten Schelt- bzw. Drohworte des Propheten sein konnte. Die einzelnen politischen Reformversuche oder die traditionell-religiösen Hoffnungsvisionen schienen ihnen zu seicht und optimistisch, weil solche Versuche das verderbte Verhängnis der menschlichen Sündengeschichte immer noch nicht richtig erkannten. In Notzeiten versuchten die frühen Apokalyptiker die prophetischen Schriften noch einmal im Horizont der Leidens- und Sündensolidarität auszulegen und die neue Perspektive der Hoffnung direkt, d.h. mit dem ihnen gegebenen Geist der Auslegung, aus der dunkel gewordenen Ökonomie Gottes herauszulesen. Dort entstand der mit den vielen geheimen Bildern beladene Stil der Apokalyptik, der die Reste der herkömmlichen prophetischen Tradition aufs neue zur universalen, schöpfungstheologischen Eschatologie hin verband.
  Hamanns apokalyptisch-sibyllinische Sprache kann auch in diesem Zusammenhang verstanden werden, obwohl er mit seinem Christozentrismus über die alttestamentlich-apokalyptische Tradition hinausgeht.7) In bezug auf die biblisch-prophetische Tradition steht er parallel zu den frühen Apokalyptikern. Trägt doch sein Cento-Stil das "apokalyptische" Bewußtsein des in der späteren Zeit Geborenen, der im Auslegen der vorangegangenen Prophetie und in deren Anpassung an die Gegenwart die eigene Sendung zu finden glaubt. Als "apokalyptischer" Hermeneut übernimmt er die Aufgabe von "Auslegung der Auslegung". Es handelt sich für ihn nämlich nicht bloß um die Auslegung der biblisch-prophetischen Schriften, sondern um die Auslegung der gegenwärtigen Ereignisse im Lichte der prophetisch-apokalyptischen Hoffnungsperspektive. Wegen der politischen Unterdrückung im Gewand des aufklärerischen Absolutismus und der Verwickeltheit der religiös-intellektuellen Voraussetzungen im Luthertum ist ihm das politisch-direkte Engagement im Sinne der Tatprophetie verweigert, und die Zukunft kommt ihm, anders als bei der Erwartung der Aufklärer, dunkel vor. In dieser politisch-religiösen Situation geht es Hamann um das Wiederauslegen der biblischen und protestantischen Tradition und die Verkündigung der wahren Hoffnung aus der reformatorischen Alleinherrschaft Gottes. Für Hamann bedeutet die Auslegung somit die moralisch-existentielle Handlung eines Autors in der späteren Zeit gegenüber den Ereignissen der veränderten politisch-religiösen Verhältnisse. In diesem Sinne ist seine Autorschaft samt seinem Stil als "Ereignisapokalyptik" zu charakterisieren, als ein neues Engagement für die Gegenwart in der eschatologisch-apokalyptischen Hoffnung.
  Das ist in seinem Verhältnis zu Luther am deutlichsten zu sehen. Lebenslang fühlte sich Hamann mit Luther eng verbunden. Auch im "Fliegenden Brief" wies er auf Luthers Vorrede zur Offenbarung des Johannes hin.8) Es ist aber bekannt, daß Luther seinerseits auf das letzte Buch des Neuen Testaments nicht so großen Wert gelegt hatte.9) Für Luther und das Luthertum war die Verkündigung der Apokalypsis eine Nebensache, während ihm die Rechtfertigung allein durch den Glauben im Römer- und Galaterbrief die Mitte der christlichen Botschaft ausmachte. Überdies waren damals die spiritualistisch-apokalyptischen Bewegungen vielmehr eine verhängnisvolle Auswirkung der übertriebenen Reformation. Nach der Stabilisierung des Luthertums als Landeskirchentum wurde aber der Schwerpunkt verlegt: Das apokalyptische Interesse wurde wieder belebt, und vor allem im Pietismus und seiner Umgebung wurde auf die eschatologisch- apokalyptische Komponente der christlichen Botschaft aufmerksam gemacht. Daß Hamann auf die apokalyptische Tradition Nachdruck gelegt hat und in seinen Schriften immer wieder die Bilder des Jüngsten Tages vergegenwärtigt hat, ist an sich in seiner Zeit nicht so merkwürdig. Darin stimmte er vielmehr mit einer Tendenz seiner Zeit überein.10) Hamann lebte in einer sowohl politisch als auch religiös völlig veränderten Situation, in der z.B. der reformatorische Gedanke der Rechtfertigung neu zu bewerten war. Hamann verhielt sich als "Philologus crucis" sowie "Metacriticus bonae spei" zu dieser veränderten Situation.11) Solche Selbstbezeichnungen drücken sein Sendungsbewußtsein als ein spätgeborener Reformator aus.
  Dieses Zeitalter, das allgemein als das des Rationalismus bezeichnet wird, läßt sich nicht so einfach charakterisieren. Dort wurde die apokalyptisch-chiliastische Hoffnung nicht erstickt. Sondern sie hat eher dort erst richtig geblüht, wofür J. W. Petersen ein gutes Beispiel abgab.12) Sie bekam dort natürlich eine eigene Prägung. Schon bei Bengel, dem biblizistischen Theologen, ist die neue Orientierung sehr deutlich. Bengel sprach von der "stufenweisen Entwicklung" der göttlichen Offenbarung.13) In der Geschichte vollziehe sich ein Entwicklungsprozeß der Offenbarung und die Johannes-Apokalypse sei das wichtigste Buch der Bibel, das "Lagerbuch"14) der Welt, weil sie den gesamten Prozeß des Reichs Gottes enthalte. Bengel war fest überzeugt, daß die Weissagung in der Johannes-Apokalypse in naher Zukunft erfüllt werde. Denn die Geschichte dränge zu einer fortlaufenden Enthüllung der Apokalypse. Dieser Gedanke der stufenweisen Offenbarung ließ ihn zur Berechnung der Endzeit gelangen, und in diesem Vertrauen auf die mathematische Chronologie war er optimistisch. In bezug auf die Endzeit war den Pietisten solcher Optimismus gemeinsam. Spener sowie Oetinger hatten z.B. den Gedanken der "Wiederbringung aller Dinge"15), womit sie sich aber vom orthdoxen Luthertum weit entfernten. In diesem Punkt hatte der Pietismus eher viel mit dem Nachfolger, der Aufklärung, Gemeinsamkeiten. Hamanns negatives Urteil über die Berechnung der Endzeit soll in diesem Sinne verstanden werden. Nicht nur im Verhältnis zur Endzeit, sondern auch im Hinblick auf die gegenwärtige Glaubensgestaltung, war der Pietismus von optimistischer Selbstsicherheit erfüllt. Hamann erkannte dies genau und distanzierte sich von den Pietisten.16)
  Im "Fliegenden Brief" hat Hamann Lavater mit einem apokalyptischen Ehrentitel angesprochen: "O Du physiognomischer Seher mit bedecktem Antlitze! Mitgenoße am Trübsal,und am Reich und an der Gedult JESU CHRISTI! 17) ER weiß Deine zahllosen Werke, und daß Du je länger je mehr thust 18). ER kennt noch den köstlichern Weg 19) Deiner Liebe, die Hyperbolen Deiner Marthamühseelig- keit 20) und alle pia desideria Deines Thomasglaubens 21) - - / Lieber hört doch, wie Sein Donner zürnet, und was für unaussprechliches Gespräch aus Seinem Munde geht 22). ER schilt die Momusengel, welche Seine Auserwählten mit Fäusten schlagen 23). ER wird die unreinen Kleider von Ihnen thun, und sie mit Feyerkleidern anziehen, und einen reinen Hut auf ihr Haupt setzen 24). Verachtete Lichtlein in den Gedanken der stoltzen 25) Heiligen 26) sind die Kleinen 27); von ihren Engeln, die allezeit vor dem Angesichte des Vaters im Himmel stehen, wird er gehen, daß sie Dich geleiten sollen 28). Sein Tag wird seyn, wie das Feuer eines Goldschmiedts, wie die Seife der Wäscher 29) - / Erbarmt euch mein, erbarmt euch mein, ihr meine Freunde, denn die Hand Gottes hat auch mich 30) gerührt. Ohne eure Wohlthaten und ihren Genuß wäre mein Leben Hiobs und Lazarus seinem ähnlich gewesen. Hoffnung des Widersehens in dem rechten Vaterlande aller Fremdlinge und Pilgrimme und Wallbrüder sey unser Abschied und gemeinschaftlicher Trost."31) Lavater wird hier Mitgenosse genannt, mit einem Ehrentitel, der der Apokalypse entnommen ist. In der Tat war Lavater in bezug auf die Mendelssohn-Kritik Hamanns Vorläufer. Er hatte sogar schon eine Apokalyptik geschrieben.32) Das nächste Zitat läßt aber sofort deutlich werden, daß Hamanns Lob Ironie ist. Hamann führt zwar die Anerkennung an, die Jesus der Gemeinde Theatera zuteil werden ließ. Hier wird aber nur von "deinen Werken" und nicht von "deiner Liebe" gesprochen. Lavater sei also lieblos. Der nächste Satz weist in der Tat auf den wahren Grund der Liebe hin, auf den sich Lavater eigentlich stützen soll. Es ist merkwürdig, daß Lavaters Liebe mit der Mühseligkeit Marthas und dem Glauben des Thomas gleichgesetzt wird. Die pietistischen pia desideria, womit Lavater etwas gemeinsam hat, werden somit als methodisches Selbstvertrauen des Menschen verworfen. Off.2,19 wurde unterbrochen und nicht weiter geführt. Dort sollte eigentlich eine Warnung vor Iesebel folgen, deren Figur sonst in Hamanns letzten Schriften immer als Gleichnis der Berliner Aufklärung vorkommt: Wie die listige Königin dem habgierigen Tyrann Ahab zum Gewinn des Ackers von Naboth half, so werde die Natur in Berlin unter Mitwirkung von Aufklärung und Absolutismus ausgebeutet. Die Usurpation werde aber sicherlich mit dem göttlichen Gericht vergolten, wie die Taktikerin auf demselben Feld zu Jesreel von den Hunden gefressen wurde.33) Hamann deutet also im Schweigen an, daß Lavater, der sich für den Gegner der Berliner Aufklärer hält, doch etwas mit diesen gemeinsam hat. Dann kommt ein Wort von Elihu gegen Hiob. Elihu betont damit die göttliche Herkunft seines Wortes und zwingt Hiob zuzuhören. Dieser Junge, der nichts vom Leiden des Hiob versteht, weiß auch nicht, daß diese Forderung an Hiob zu ihm selbst zurückkehren wird und seine arrogante Haltung richtet.Hamann kritisiert also, daß die Stellung des Lavater genauso wie die der Berliner selbstgerecht sei. Dann weist Hamann in Solidarität mit dem leidenden Hiob auf den wahren apokalyptischen Tröster hin, vor dem aber alle gleich schuldig sind. Lavaters poetischer Schwung zum Himmel sei also kein "Mitgenosse am Trübsal". Hamann zeigt klagend, daß die apokalyptische Haltung für ihn die Solidarität im Leiden bedeutet. Hamann will im "Fliegenden Brief" nicht nur an Mendelssohn Kritik üben, sondern auch die ganze geistige Konstellation seiner Zeit aus dem apokalyptischen Blickwinkel deutlich machen.
  Hamann ist also keineswegs ein absoluter Gegner des aufklärerischen Rationalismus. Seine Autorschaft hat eher zwei Fronten. In diesem Sinne steht Hamann in der Nähe von Lessing, der sich sowohl der Orthodoxie als auch der Neologie entgegengesetzt hat.34) In bezug auf die eschatologische Hoffnung ist aber auch Lessings Stellung für Hamann bedauerlicherweise seicht. Hamanns kritischer Blick richtet sich also nicht gegen Lessings aufklärerische Kritik, sondern gegen dessen aufklärerische Eschatologie. Lessing teilt Semlers Spott über die Offenbarung des Johannes und zertrümmert mit den Reimarus-Fragmenten endgültig die Grundlage der altchristlichen Eschatologie.35) Sicherlich ist Lessing gegen die mathematische Heilsökonomie Bengels. Er ist aber in einem Sinne mit Bengel einig, wenn er in der "Erziehung des Menschengeschlechts" (1780) meint, daß die göttliche Vorsehung ihr Ziel in Stufen erklimme.36) Er äußert dabei sogar eine Art eschatologischer Hoffnung auf das "neue ewige Evangelium", indem er sich auf den Apokalyptiker Joachim de Fiore und dessen Dreiweltenlehre bezieht.37) Hamann kritisiert diese Schrift Lessings als "nichts als Ideenwanderung in neue Formeln und Wörter". Sie sei "Kein Schiblemini, kein rechter Reformationsgeist, keine Empfängnis, die ein Magnificat verdiente."38) Hamann deutet damit an, daß die Zukunftshoffnung in Lessings "Testament" aus derselben Herkunft entstanden ist, woraus das damalige pietistische Endzeitdenken auch herstammte: aus dem übersteigerten Selbstvertrauen der Neuzeit.
  Hamann sieht in der Geschichtsphilosophie Kants dasselbe Phänomen. In der "Idee zu einer allgemeinen Geschichte" (1784) fragte Kant nach der Gesetzmäßigkeit der Geschichte, in der alles unvernünftig zu sein schien, und antwortete darauf mit der Analogie zur Natur, deren Gesetzmäßigkeit für den Menschen er schon in seiner ersten Vernunftkritik begründet hatte. Es sei nämlich der "Zweck der Natur", die im Menschen angelegte Vernunft vollkommen zu entwickeln, wobei das Erreichen dieses Ziels erst für die Menschheit als Gattung möglich sei. In diesem Sinne wird die Geschichte von ihm als vernunftgemäßer Fortschritt zur vollkommenen Freiheit der Menschheit aufgefaßt. Dieser Prozeß zur Freiheit ist es, was ihm als Sinn der Geschichte gilt. In diesem Zusammenhang äußert er sich zur Eschatologie: "[...] die Philosophie könne auch ihren Chiliasmus haben".39) Hamann sieht ein, daß Kants Chiliasmus mit der pietistischen Endzeitserwartung gleichen Ursprungs ist. Beide wurzelten nicht nur in ursprünglich christlich-apokalyptischen Gedanken, sondern sie seien Geschwister in ihrem Optimismus. Hamann nennt Kants Idee in diesem Sinne "kosmopolitisch-platonischen Chiliasmus"40), und deckt auf, daß Kant durch seine angeblich nüchterne, aber in der Tat monologisch-autarke Vernunft doch in den chiliastischen Fanatismus gerate. Schwärme doch Kant mystisch vom neuplatonisch-intelligiblen Ideal und versuche von da aus die Theodizee seines Vernunftglaubens. Seine moralische Eschatologie, die er später in dem "Ende aller Dinge" (1794) "das natürliche Ende aller Dinge"41) nennen würde, ist nach Hamann "focus imaginarius", womit Kant seine Lehre des unendlichen Fortschrittes rein logisch von dessen Endpunkt her rechtfertigen will. Es fehle ihm dabei am wirklichen Standpunkt in der Geschichte.42)
  Hamann sieht klar, daß die säkularisierte, aufklärerische Eschatologie mit der frommen pietistischen in engem Zusammenhang steht, ja sogar wesentlich gleichen Ursprungs ist. Das Ende der Welt, so läßt sich sagen, rückt zwar erst in der säkularisierten Aufklärung in weite Ferne. Aber die optimistischen Vorstellungen im 18. Jahrhundert: die Verbreitung eines weltlichen Unendlichkeitsgefühls, das weltimmanente Verständnis der teleologischen Ausrichtung, die freie Bahn für den Glauben an eine glückliche Zukunft des Menschengeschlechts hier auf Erden,43) wurden als Keime schon im Christentum vorbereitet und mit dessen Eschatologie weiter entwickelt. Hamanns Metakritik klärt solche verworrenen Verhältnissen auf, indem er die Verflechtung damaliger aufklärerischer Zukunftserklärungen mit den biblisch-apokalyptischen Bildern konfrontiert.
  In der ersten Fassung des "Fliegenden Briefs" hat Hamann in bezug auf das Verhältnis des Geistes der Beobachtung zu dem der Weissagung betont: Wie man die jeweils gegenwärtige Wirklichkeit versteht, ist vom entsprechenden Geschichtsverständnis abhängig.44) Weil die Geschichte aber ihren endgültigen Sinn erst vom Ende her erhält, ist die Eschatologie der Brennpunkt, in dem die ganze geschichtliche Wirklichkeit konvergiert. Mendelssohns Vergegenwärtigung des Judentums, seine Abschaffung der jüdisch-christlichen Eschatologie bestätigt auf die "radikalste" Weise diesen Tatbestand. In seiner "radikalen Eschatologie", d.h. in seiner Enteschatologisierung spiegelt sich nämlich das optimistische Selbstvertrauen des Zeitgeistes am deutlichsten. Das war aber eigentlich nicht nur bei Mendelssohn der Fall, sondern auch bei Kant, bei Lessing sowie bei Herder. Zeigt doch jedes Endzeitdenken das jeweilige Verständnis der Gegenwart, wobei Geschichte und Religion, der Modetendenz der Zeit entsprechend, mehr oder weniger enthistorisiert und naturalisiert werden. Hamann setzt sich mit einem solchen aufklärerischen Versuch auseinander, indem er ihn mit den Worten des eschatologisch- apokalyptischen Gerichts konfrontiert, die an sich schon von den geschichtlich-eschatologischen Traditionen schwer beladen sind. Denn gerade an dem Ort, wo das Selbstvertrauen des friderizianisch-aufklärerischen Absolutismus eben in seiner ursprünglich christlich-eschatologischen, in der Tat aber enteschatologisierten Vorstellung am deutlichsten vorkommt, müsse sie am härtesten gestraft werden. Um die heimliche Verfälschung des Reformationsgeistes ins helle Licht zu rücken, stellt Hamann, anders als Luther, die Christologie der Johannes-Apokalypse in den Vordergrund, die die universale Schöpfungstheologie in die eschatologische Parusieerwartung einordnet. So nimmt Hamann Luthers "sola fide" aufs neue in ihrer veränderten Situation wieder auf und verhält sich als Spätgeborener zur reformatorischen Botschaft der Alleinwirksamkeit Gottes. Hamann schließt seinen Cristuscento immer mit einem Bild der Parusie oder der Endzeiterwartung.45) Auf diese Weise will er das Ereignis des Kreuzes im Lichte der Parusie noch einmal in den Vordergrund stellen. So setzt er "Golgotha" und "Scheblimini" zusammen, indem er die beiden das "verborgene Zeugnis s[m]einer Autorschaft" nennt.46)
  Die Konfrontation mit der Geschichts- und Eschatologieauffassung der Zeit bringt Hamann zur hermeneutischen Wiederaufnahme der prophetisch- apokalyptischen Sprache. Hamann hält an der eschatologisch-apokalyptischen Bilderwelt fest, weil die Apokalyptik eine solche Literaturgattung ist, die ihm aus der Schatzkammer ihrer Bilder nicht nur Gerichtsbilder verbürgt, sondern auch reichlich Heilsvorstellungen schenkt, die die selbstsichere Aufklärung trotz ihrer Verwandtschaft nicht mehr wissen will, die Hamann seinerseits nach der Theologie der Johannes-Apokalypse, nämlich im "Geist der Weissagung", christozentrisch einzuordnen weiß. Hamanns Metakritik will die Schwäche der Aufklärung darin zeigen, daß sie ihren ursprünglich christlich-eschatologischen Ursprung verläßt und das Bild der Hoffnung woanders hernimmt, so daß sie sich dadurch ihrem eigentlichen Element des Lebens entfremdet. Dabei ist die Zusammensetzung der Bilder von Gericht und Heil der wichtigste Charakter des Hamannschen Centostils. Die prophetisch-metakritische Persiflage wird immer von der apokalyptischen Hoffnung begleitet. Sein Cento-Stil mit seinen stark aus der Geschichte und der Tradition gespeisten Bildern entsteht aus seinem hermeneutischen Umgang mit der prophetisch-apokalyptischen Sprache, als Ergebnis seiner "Auslegung der Auslegung".
  Bei Hamanns apokalyptisch-nachdrücklichem Sprechen ist schließlich noch ein Moment zu berücksichtigen: die Solidarität mit den verfolgten Niedrigen, wie sie oben in der Anrede an Lavater zu beobachten ist. Im "Fliegenden Brief" kommt wiederholt ein Wink der Soridalität vor: "Die übrigen disiecti membra poetae liegen hinterhalb auf dem Feld im Acker Jesreel."47) Damit kritisiert Hamann, daß Mendelssohn mit der hebräischen Bibel beliebig umgeht und die ihm nicht gefallenden Begriffe und damit die ganze israelitische Tradition der Hoffnung außer acht läßt. Das Bild weist auf eine Stelle in der "Aesthetica in nuce" hin: "Wir haben an der Natur nichts als Turbatverse und disiecti membra poetae zu unserm Gebrauch übrig."48) Hamann tadelt dort die Ausbeutung der Natur durch die aufklärerische Vernunft. "Alle Farben der schönsten Welt verbleichen: sobald ihr jenes Licht, die Erstgeburt der Schöpfung, erstickt. Ist der Bauch euer Gott: so stehen selbst die Haare eures Hauptes unter seiner Vormundschaft. Jede Kreatur wird wechselsweise euer Schlachtopfer und euer Götze. - Wider ihren Willen - aber auf Hofnung - unterworfen, seufzet sie unter dem Dienst oder über die Eitelkeit."49) Hamann spürt die Wehen der eschatologischen Zeit. Seine Gerichtsrede kommt aber nicht von der isolierten Erhabenheit eines Propheten. "Denn die ganze Schöpfung nimmt an unsern Grimmen und Wehen Antheil."50) Aus der existentiellen Sympathie für die "Verachteten" der Gegenwart, z.B. für die unter der Vernunftgläubigkeit "seufzende" Natur, entstehen seine endzeitverheißenden Bilder. Im "Fliegenden Brief" weist Hamann auch im Mitleid für die Verfolgten auf das Feld im Acker Jesreels hin.51) "Zerstückelte Glieder" der Verfolgten werden dann plötzlich in jene des Verfolgers selbst (den Leichnam Iesebels) verwandelt. Die Szene geht auf einmal in ein apokalyptisches Gericht über.52) Hamann nimmt die Sprache der Apokalyptik deswegen auf, weil diese Literaturgattung mit dem Leiden eng verbunden ist.53) Die mit-leidende Solidarität ist es, die ihn, hoffnungsvoll und voll Zuversicht in die Vorsehung, das Endgericht verkündigen läßt, das allein von dem kommen soll, der selbst Anfang und Ende der Geschichte heißt. Mit seinem Stil läßt er den Leser der Vollendung in Christus (als Anti-Typus) gegenübertreten, aus dem die Geschichte als Typus erst ihren vollen Sinn erhalten soll. Hamanns !Mimik" mit ihrer "apokalyptischen" Sprache ist also sowohl eine existentielle Verkörperung seines Geschichtsverständnisses als auch ein Mittel der Verkündigung, womit er den Gegenpart des Dialogs vor die Entscheidung stellt.
  Damit steht fest, daß in Hamanns Engagement für seine Zeit und in seinem Verhältnis zur Tradition eine Parallele zur frühen Apokalyptik zu sehen ist. Hamann einen Apokalyptiker zu nennen, ist doch zu gewagt und soll ein - vielleicht geistreicher - Einfall bleiben. Denn es geht sicherlich zu weit, wenn man behauptet, daß Hamann in der Weise als "Apokalyptiker" zu bezeichnen sei, wie Nadler ihn "Gnostiker" nannte.54) Es gibt schon genug Begriffe, die Hamanns Autorschaft charakterisieren sollen. Manchmal wird dazu das Wort "Prophetie" gebraucht. Hier muß aber angemerkt werden, daß Hamann doch etwas mit der Apokalyptik zu tun hat, daß er nämlich in bezug auf die Art der Bibelauslegung und das Bewußtsein dahinter vieles mit der Apokalyptik, insbesondere mit der frühen Apokalyptik gemeinsam hat. In der Zeit der Aufklärung, da das Alte Testament verworfen wird und dessen prophetische Bedeutung verlorenzugehen droht, beschäftigt er sich nochmals mit dem Wort der Prophetie, vor allem mit ihren eschatologisch-apokalyptischen Komponenten und gewinnt ihr eine neue Bedeutung für die Gegenwart ab. Diese hermeneutische Haltung ist sicherlich der der frühen Apokalyptik verwandt.
 
 
 
 
 
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In: The Proceeding of the Department og Foreign Languages and Literatures, College of Arts and Sciences, University of Tokyo, Vol.XLI No.1, Tokyo 1994, S.114-159.



Anmerkungen