Geschichte und Apokalyptik
bei Immanuel Kant und Johann Georg Hamann
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@ In der "Kritik der reinen Vernunft" (1781) schrieb Kant: "Die reine Vernunft ist in der Tat mit nichts als sich selbst beschüftigt, und kann auch kein anderes Geschäft haben, [...]".1) Nach Kant ist Denken "Reden mit sich selbst [...], folglich sich auch innerlich Hören".2) Hamanns "Metakritik" (1784) griff gerade diese Einheit des autarken "transzendentalen Subjektes" auf und warf Kant dessen Selbstbezüglichkeit vor: "das Formenspiel einer alten Baubo mit ihr selbst".3) Kants Sprachauffassung war es, die Hamann dabei am schärfsten angriff. Kants Vernunftreinigung sei Abstrahieren von der Sprache, die zwar von geschichtlich-zufälligen Ereignissen abhängig, aber "das einzige erste und letzte Organon und Kriterion der Vernunft" sei.4) Am Ende der Abstrahierung bleibe der Vernunft nichts als Schweigen übrig. Solch ein stummes "Ideal der reinen Vernunft" klagte Hamann als "mystische Einheit"5) an, deren Vorbild schon in der Geschichte selbst, nämlich im Gottesbegriff des Neuplatonismus vorhanden war: das verehrte Unsagbare, dem alle irdischen Prädikate abgenommen wurden.
@ Dieser Anklage konnte Kant aber nicht zustimmen. Für Kant war der Mystiker vielmehr Hamann selbst. 1774 hatte Kant an Hamann geschrieben und ihn gebeten, seine Meinung auszusprechen: "[...] aber wo möglich in der Sprache der Menschen. Denn ich armer Erdensohn bin zu der Göttersprache der Anschauenden Vernunft garnicht organisirt."6) Dies ist so gut wie die einzige Stelle, wo sich Kant direkt zu Hamann über dessen Stil äußerte. Der witzige Ausdruck, obzwar durch die damalige Situation des Briefwechsels bestimmt, läßt gleichwohl den wesentlichen Unterschied der beiden Personen sichtbar werden. Hamanns sibyllinisch-bildhafte Rede, die eigentlich in seinem Existenzverständnis als Bruchstück begründet war, wurde eher für die dem Menschen unerlaubte Grenzübertretung gehalten. Nach Kant könnte "die anschauende Kenntnis der anderen Welt" nur mit der Einbuße am Verstand erlangt werden, den man "für die gegenwärtige nötig" habe.7) Hamann schien ihm also den "Geistersehern" nahezustehen, die im "Schattenreich" träumen und sich im "Paradies der Phantasten" "nach Belieben anbauen".8) Dabei läßt es sich sehr gut vermuten, daß vor allem Hamanns eigenartiger Stil, der auch von anderen Zeitgenossen für "Apokalypse" gehalten wurde, zu der Einschätzung Anlaß gab. Später behandelte Kant die Thematik der Eschatologie und schrieb: Weil man "die Zufriedenheit" "nur dadurch, daß der Endzweck endlich einmal erreicht wird, denken kann", "gerät nun der nachgrübelnde Mensch in die Mystik, wo seine Vernunft [...] lieber schwärmt [...]".9) Dieses Urteil ging zwar nicht direkt auf Hamann. Kant beargwöhnte aber Hamanns Sprache eben in dem Sinne.
@ Um diesen Widerstreit beider Urteile zu erfassen, ist es vor allem nötig, die Verschiedenheit ihres Geschichtsverständnisses noch eingehender zu verfolgen. Was dabei einen Leitfaden bieten kann, wäre die Problematik des Geschichtsendes und der Apokalyptik, in der Stil- und Geschichtsverständnis untrennbar verbunden sind.
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@ Hamann war sich selbst der Eigenartigkeit seines Stils bewußt. Er hatte einmal Kant darüber geschrieben und dabei die Schreibart mit dem Gang der Tiere verglichen. Er stellte dem damaligen akademisch-syllogischen Stil ("Blindschleiche"), dessen auch Kant sich bediente, den fragmentarischen Sprung seines Centos ("Heuschrecke") gegenüber, und deutete an, daß in seinem "mimischen Styl" doch "eine strengere Logic" herrsche, die alles andere als ein mystisch- phantastisches Blendwerk war.10)
@ Als philologische Nachfolge der "Herablassung Gottes" war Hamanns Autorschaft Anpassung an die damalige ästhetische Literatur: "der Laconismus und stylus atrox poetischer Bilderschrift".11) Damit deutete er aber auch auf das Wesen der biblisch-prophetischen Redensart, die er sich angeeignet hatte. Reden hieß für ihn Weissagen. Zur Charakteristik dieses Stils kann man zwei Ideen hervorheben: Abschreckung und Mitteilung. 1) Die Dunkelheit, womit das göttliche Wort sich deckt, bleibt Geheimnis vor der menschlichen Vernunft.@Wenn diese auch sich von dem Rätsel bezaubern läßt, wird doch jeder anmaßende Versuch des Erkennens dadurch bestraft. Hamanns apokalyptisch-sibyllinische Sprache soll zunächst in diesem Zusammenhang verstanden werden. 2) Dieses prophetisch-erhabene Wort wird aber dem niedrigen Menschen anvertraut. Wie sich Hamann Kant gegenüber in der Gestalt des Ungeheuers "Leviathan"12) zeigte, bildet die "Höllenfahrt der Selbsterkenntnis"13) unentbehrlich einen Kern der biblischen Mitteilung. "Genie ist eine Dornenkrone und der Geschmack ein Purpurmantel, der einen zerfleischten rücken deckt."14) Obwohl diese stilistische "Knechtgestalt" als Dummheit nur abstoßend wirken kann, muß die biblische Botschaft immer derart sein, weil ihre Mitteilung nur durch die "Empfindung", d.h. durch die existenziell-gleichzeitige Sympathie möglich wird.15) Biblische Offenbarung und existenzielle Empfindung - daraus stammte also die Hamannsche Stilmischung von genus sublime und genus humile, womit er der Rede der Propheten nachfolgte. Seine Autorschaft wurde dabei durch ein "typologisches" Geschichtsverständnis tief geprägt. Wie die Propheten mit ihrer Bildersprache auf den Dialog mit dem geschichtlichen "Vor-bild (Typus)" gedeutet hatten, so betonte Hamann den Sprach- und Erzählcharakter der Geschichte. Die Geschichte sollte als Rede Gottes, als sinnlicher Typus "gehört" werden. Dabei heißt "Hören" Gleichzeitig-Werden mit einem Ereignis der Vergangenheit. Es entstand aus diesem Stil- und Geschichtsverständnis seine erste Schrift "Sokratische Denkwürdigkeiten" (1759), womit er eben Kant selbst zum Dialog herausforderte.
@ Die typologische Auslegung deutet Geschichte zwischen Anfang und Ende, wobei die Begebenheiten als Typen der Heilsgeschichte verstanden werden und die Gleichzeitigkeit mit dem Vergangenen immer in die Zukunft weist. Wer die Geschichte typologisch betrachtet, der sieht den Erwartungscharakter der Dinge in der Welt, weil die Erfüllung ihm in den letzten Dingen (Eschaton) verborgen ist. Hamann verwendete seine Bilder aber nicht nur eschatologisch, sondern auch apokalyptisch. Die formalen Charakteristika der Apokalyptik: die Beschreibung der kosmologischen Vision, die Pseudonyme, das geheimnisvolle Wissen, die Anwendung des alten Stoffes u.s.w., kommen alle in seinen Schriften vor. Trotz dieser Ähnlichkeiten kann man ihn aber nicht einfach zum Apokalyptiker erklären. Er hatte kein chiliasistisches Interesse an der Berechnung der Endzeit, und darin war er von Bengel entfernt. Seine Bilder waren zwar sibyllinisches Cento, aber keine pessimistisch-dualistische Spekulation der Deterministen. Weil die Apokalyptik an sich schwer zu definieren ist, handelt es sich hier vorwiegend um ihre Beziehung zum Stil. Hamanns Cento-Stil trug wenigstens das "apokalyptische" Bewußtsein des in der späteren Zeit Geborenen, im Auslegen der vorangegangenen Prophetie und in deren Anpassung an die Gegenwart die eigene Sendung zu finden. Seine endzeitverheißenden Bilder entstanden dabei aus der existenziellen Sympathie für die "Verachteten" der Gegenwart, z.B. für die "seufzende" Natur unter der Vernunftgläubigkeit ("Aesthetica in nuce"). Hamann nahm die Sprache der Apokalyptik deswegen auf, weil diese Literaturgattung mit dem Leiden eng verbunden war. Die mit-leidende Solidarität war es, die ihn, hoffnungsvoll mit der Zuversicht in die Vorsehung, das Endgericht verkündigen ließ, das allein von dem kommen sollte, der selbst Anfang und Ende der Geschichte hieß. Mit seinem Stil ließ er also den Leser der Vollendung in Christus (Anti-Typus) gegenübertreten, aus dem die Geschichte erst ihren vollen Sinn erhalten sollte. Hamanns "Mimik" mit ihrer "apokalyptischen" Sprache war also sowohl eine existenzielle Verkörperung seines Geschichtsverständnisses als auch ein Mittel der Verkündigung, womit er den Gegenpart des Dialogs vor die Entscheidung stellte.
@ In Hamanns damaliger Konfrontation mit Kant sind zwei Momente zu nennen, die gerade von dieser Geschichtsauffassung bestimmt wurden. 1) Kants Vorschlag einer gemeinsamen Niederschrift der "Kinderphysik" setzte er den Gegenvorschlag entgegen, den Kindern die Natur als Schöpfung "geschichtlich" zu erzählen, weil "ein historischer Plan einer Wissenschaft immer besser als ein logischer" sei.16) Für ihn habe die Natur als Rede Gottes immer einen Sinn, sei also eine Sprache, die nicht erklärt, sondern "ausgelegt" werden müsse. "Das Buch der Natur" geschichtlich-dialogisch zu lesen, war aber für Kant allzu albern, weil die Natur im logisch-mathematischen Zusammenhang einheitlich erkannt werden sollte. Solch einen Ganzheitsanspruch der Aufklärungszeit kritisierte Hamann als Hybris der menschlichen Erkenntnis. Kant antwortete darauf nicht mehr, so daß die gegenseitigen Vorschläge scheitern mußten. 2) Hamann sah aber in diesem Stillschweigen Kants noch einen Punkt, der Kritik verdiente. "Sie müßen mich fragen und nicht Sich, wenn Sie mich verstehen wollen."17) Dialog war für Hamann das einzig angemessene Verhältnis zur Wahrheit. Die wissenschaftliche Haltung, womit Kant jeden Dialog vermied, hielt er für eine solipsistische Einheit des autarken Subjekts und tadelte sie wegen der arroganten Gleichgültigkeit gegen die Mitteilung. Dieser Vorwurf nahm schon seine spätere Kantkritik vorweg.
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@ An der Schwelle zur "kritischen" Zeit hatte Kant seinerseits schon den Ganzheitsanspruch aufgegeben. Kants Entwicklungsweg ging aber nicht geradeaus und seine Stellung zu den "letzten Dingen" war einmal ziemlich ambivalent, wie die Schrift "Träume eines Geistersehers" (1766) bezeugt.
@ Von Swedenborg angelockt, wurde er sich der "Sympathie" für die "Theorien" der "Geisterseher" bewußt, worüber er zunächst "unschlüssig" sein mußte.18) Wie vom "Schattenreich" verzaubert, blickte er dabei in den Schlund seiner Existenz hinein. Zwischen Zuneigung und Abneigung innerlich zerrissen, kam er Hamannscher Selbstironie sehr nahe: "Es schien mir also am ratsamsten anderen dadurch zuvorzukommen, daß ich über mich selbst zuerst spottete, [...]."19) Er tanzte da zwar glänzend, doch am Rande des Abgrundes seiner Seele, als wäre er von der unendlichen Negation des Spottes getrieben. Eine Spur seines schweren Kampfes ist in einem Bild erkennbar:@"Die Verstandeswage ist doch nicht ganz unparteiisch, und ein Arm derselben, der die Aufschrift führt: Hoffnung der Zukunft, hat einen menschlichen Vorteil", daß die Schale davon schwerer als die der Speklation wiege.20) Er gestand: "Dieses ist die einzige Unrichtigkeit, die ich nicht wohl heben kann, und die ich in der Tat auch niemals heben will." 20) Kants These, die später das "Postulat der praktischen Vernunft" genannt wurde, stand hier in "Sympathie" für die Endzeiterwartung. Kant schöpfte das Leitmotiv seines späteren Systems also eigentlich aus der unheimlichen Tiefe seiner Existenz. Es war der Zeitpunkt, wo sich Hamann und Kant existenziell am nächsten standen, was man auch in stilistischer Hinsicht beobachten kann. Weder früher noch später gestand Kant so offen seine eigene Identitätskrise. Der Welt der "letzten Dingen" ausgesetzt, sah er also keinen Ausweg als den Stil des Geständnisses aufzugreifen. Kaum hatte er aber den Abgrund in sich selbst gesehen, da verschloß er doch davor wiederum die Augen und gewann das frühere selbstsichere Gleichgewicht: "Wo ich etwas antreffe, das mich belehrt, da eigne ich es mir zu. Das Urteil desjenigen, der meine Gründe widerlegt, ist mein Urteil, nachdem ich es vorerst gegen die Schale der Selbstliebe [...] abgewogen und in ihm einen größeren Gehalt gefunden habe."20) Die Identitätsfrage wurde sofort unter- drückt und mit dem Verfahren der Reflexion vertauscht. Er konnte dadurch zum monologischen, schulphilosophischen Stil der Metaphysik und Metaphysikkritik zurückkehren, der seinen existenziellen Zweifel hinter der methodischen Skepsis des Akademikers versteckte. Mit der geschickten Unterscheidung von mundus sensibilis und mundus intelligibilis trat er nun in seine "kritische" Zeit ein. Wie schon erwöhnt, traf ihn hier am schärfsten Hamanns Kritik über die Autarkie der Vernunft und deren Abstrahierung von der Sprache.
@ Kant veröffentlichte seine Geschichtsphilosophie in seiner späteren Zeit. In der "Idee zu einer allgemeinen Geschichte" (1784) ging es ihm um die Spannung zwischen Vernunft und Geschichte. Er fragte nach der Gesetzmäßigkeit der Geschichte, in der alles unvernünftig vorzukommen schien, und antwortete darauf mit der Analogie zur Natur, deren Gesetzmäßigkeit für den Menschen er schon in seiner ersten Vernunftkritik begründet hatte. Es sei nämlich der "Zweck der Natur", die im Menschen angelegte Vernunft vollkommen zu entwickeln, wobei das Erreichen dieses Ziels aber nicht für das einzelne Leben, sondern erst für die Menschheit als Gattung möglich sei. Dabei ist es jedoch klar zu erkennen, daß das notwendige Vernunftgesetz bei Kant immer noch den Vorrang vor der zufälligen Geschichte hatte, was wiederum bei Hamann genau umgekehrt sein sollte. Für Kant handelte es sich also sowohl bei der geschichtlich-praktischen Vernunft als auch bei der reinen Vernunft um die Reinigung. Die Geschichte wurde von ihm als vernunftgemäßer Fortschritt zur vollkommenen Freiheit der Menschheit aufgefaßt. In diesem Zusammenhang äußerte er sich auch zur Eschatologie: "[...] die Philosophie könne auch ihren Chiliasmus haben; aber einen solchen, zu dessen Herbeiführung ihre Idee, [...], selbst beförderlich werden kann, der also nichts weniger als schwärmerisch ist".21) Für Kant war der Schwärmer derjenige, der "die Vorstellung eines unendlichen Fortschreitens zum Endzweck" nicht aushalten könne und "in die Mystik" gerate und "gern im Transzendenten etwas" wage.22) In dem "Ende aller Dinge" (1794) nannte er nun diesen unendlichen Fortschritt der Freiheit "das natürliche Ende aller Dinge" und setzte ihn dem "mystischen (übernatürlichen)" und dem "widernatürlichen" entgegen.23) Bei dieser ruhigen Klassifizierung der Eschatologie ließ der Zweifel, der ihn einmal von innen bedroht und der anderen Welt ausgesetzt hatte, keine Spur mehr hinter sich: "Da wir es bloß mit Ideen zu tun haben (oder damit spielen), [...], so haben wir ein freies Feld vor uns, dieses Produkt unsrer eignen Vernunft [...] einzuteilen."23) Hier blieb die Waage stehen und bewegte sich kaum mehr. Kant erklärte dabei sogar ein Bild aus der biblischen Apokalypse, worin der Engel das Ende aller Zeit verkündigt (Off.X,5,6), für unsinnig, weil die Zeit nach seiner Theorie eine reine Form der Anschauung bedeute und der Zustand ohne Zeit undenkbar sei.24) Hier wird bezeugt, daß die Apokalyptik für ihn mystisch-unvernünftig blieb, und daß er für ihr Stilbewußtsein und Geschichtsverständnis kein Ohr hatte.
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@ Wie man die jeweils gegenwärtige Wirklichkeit versteht, ist vor allem aus dem entsprechenden Geschichtsverständnis zu ersehen. Die Geschichte erhält aber ihren endgültigen Sinn erst vom Ende her. Eschatologie ist also der Brennpunkt, in dem die ganze geschichtliche Wirklichkeit konvergiert. Wie bei Hamann war es auch bei Kant der Fall. Nach seiner Geschichtsaufassung "als die Vollziehung eines verborgenen Plan der Natur"25) zu ihrem Endzweck der vollkommenen Staatsverfassung, beurteilte Kant die Gegenwart derart, daß er zwar in keinem "aufgeklärten", aber "in einem Zeitalter der Aufklärung" wohne.26)
@ Kant definierte die Aufklärung als "Ausgang der Menschen aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit."27) Dieser Prozeß zur Freiheit war es, was bei ihm als Sinn der Geschichte galt. Der Endzweck hieß dabei Mündigkeit, daß man nämlich weiß, "sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen".27) - Nach diesem Ideal vom "natürlichen Ende" beurteilte er sein Zeitalter positiv, obwohl er darin noch Hindernisse zu beseitigen fand. Mit einer geschickten Strategie, zwischen dem öffentlichen und dem privaten Gebrauch der Freiheit zu unterscheiden, äußerte er, daß die Regierung Friedrichs in diesem Sinne der Aufklärung fortschrittlich sei. Weil die Freiheit zur öffentlichen Erörterung religiöser Probleme für ihn eine Bresche bedeutete, konnte er die Zwangsgewalt des friedrizianischen Staates momentan als Voraussetzung für den freien Gebrauch der Vernunft rechtfertigen und sogar sein Zeitalter "das Jahrhundert Friederichs" nennen.28) Denn der Kampf gegen die religiöse Bevormundung war für Kant der Weg zur Autonomie, indem er doch taktisch darunter eine Bemerkung politischer Bedeutung versteckte, die der unbeschränkten Legislative des Monarchen doch Grenzen setzen sollte.29)
@ Kants Kampf war aber für Hamann ein Windmühlen-Kampf, weil er wiederum die Abstrahierung von der wirklichen Geschichte zur Voraussetzung habe. Er nannte Kants Idee "kosmopolitisch-platonischen Chiliasmus"30), und deckte auf, daß Kant durch seine angeblich nüchterne, aber in der Tat monologisch-autarke Vernunft doch in den chiliastischen Fanatismus gerate. Schwärme doch Kant mystisch zum neuplatonisch-intelligiblen Ideal hinauf und versuche von da aus die Theodizee seines Vernunftglaubens. Seine moralische Eschatologie war nach Hamann "focus imaginarius", womit Kant seine Lehre des unendlichen Fortschrittes rein logisch von dessen Endpunkt her rechtfertigen wollte. Es fehle ihm dabei am wirklichen Standpunkt in der Geschichte. So stellte Hamann Kants Geschichtsphilosophie die eigene typologisch-apokalyptische Geschichts-auffassung entgegen. Für ihn war Kants besondere Anwendung des "Chiliasmus" seicht und überhaupt Kants Stellung zu den "apokalyptischen" Bildern ganz verkehrt, weil Kant nicht einsah, daß die Apokalyptik eigentlich das Stilbewußtsein des Leidenden sein sollte. In der Tat mangelte es Kant am Standpunkt der Verfolgten. "Ohne Wärme" tadelte er eher die Unmündigen, die aus "Faulheit und Feigheit" unmündig zu bleiben neigten, indem er von ihnen den Mut forderte, sich frei des eigenen Verstandes zu bedienen. Kant gab sich also als ihr Vormund aus. So stand er, kritisierte Hamann, schmeichelhaft auf der Seite des Verfolgers, der sich der Vormund des Volks nannte.
@ Für Hamann war die Regierung Friedrichs nichts als die "dreifache Unterdrückung", die er als "Zöllner", unter der Frankreich wohlwollend gesinnten Zollpolitik des Königs, am eigenen Leib erfahren hatte.31) Zynisch-überhebliche Menschenverachtung war es, die er in der Herrschaft des Königs bezeugt fand: "FRIEDRICH der Hohepriester SEINES Volks nach der Weise Melchisedech", der weiß, "Selbst glücklich zu seyn, und Sich als einen GOTT der Erde SEINEM Volke zu offenbaren".32) Kant, der sich als Universitätslehrer mit seiner selbstbezüglichen Vernunft des akademisch-solipsistischen Stils bediente, gelangte demgegenüber zur falschen Einsicht in die Wirklichkeit und geriet in die Idolatrie. "Das Unvermögen oder die Schuld des fälschlich anklagten unmündigen" bestehe nicht "in seiner eigenen Faulheit und Feigheit", sondern "in der Blindheit seines Vormundes, der sich für sehend ausgiebt, und eben deshalb alle Schuld verantworten muß".33) Die Schuld lag nach Hamann eher im Vormund Kant selbst, der in die moralisch-erhabene Gedankenwelt hinausflog, indem er einerseits die gemeinsame Schwierigkeit mit den Unmündigen - Ohnmacht des Denkens vor der Zwangsgewalt des Staates - verneinen, andererseits die existenzielle Last seines Daseins ignorieren wollte. Ohne wahre Selbsterkenntnis könne man keine richtige Sympathie für die Nächsten haben. So habe Kant schließlich die Erkenntnis seiner Gegenwart und der Zukunft verfehlt: "Die Aufklärung unsers Jahrhunderts ist also ein bloßes Nordlicht, aus dem sich kein kosmopolitischer Chiliasmus als in der Schlafmütze u[nd] hinter dem Ofen wahrsagen läßt."34)
@ Hamann war damals einer der wenigen, denen die Bedeutung der Geschichte klar wurde. Weil ihm das Zeitalter schwarz und schwierig vorkam, griff er die leidenschaftliche Mimik der eschatologisch-apokalyptischen Sprache auf. In der solidarischen Sympathie für die seufzenden Mitmenschen deutete er, den Verfolgern das Gericht verkündigend, auf den "fruchtvollen" Weg des Dialogs mit den Typen der Geschichte. Kant dagegen beurteilte sein Zeitalter seiner vernunftgemäßen Geschichtsdogmatik entsprechend ziemlich positiv, mußte aber bald der herankommenden Zeit des Rückschrittes entgegentreten. Apokalyptik machte dabei den Probestein aus, an dem das dahinterliegende Existenzverständnis und das damit eng verbundene Stilbewußtsein geprüft wurde. Kants Unverständnis für die Hamannsche Sprache gründete sich eben auf die Mißachtung dieser Literaturgattung.
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Anmerkungen
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1) Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. 1.Aufl. Riga (Hartknoch) 1781, S.680.
2) Kant, I.: Kant's gesammelte Schriften, hg.v. der Königlich Preußischen Deutschen Akademie der Wissenschaften, Berlin (de Gruyter) 1902ff. (A mit folgender Band- und Seitenzahl); A‡Z,192.
3) Hamann, Johann Georg: Sämtliche Werke, hg.v. J. Nadler, Wien (Herder) 1949-1957 (N mit folgender Band- und Seitenzahl); N‡V,287.
4) N‡V,284.
5) N‡V,279.
6) Hamann, Johann Georg: Briefwechsel, hg.v. W. Ziesemer und A. Henkel, Wiesbaden und Frankfurt (Insel) 1955ff. (ZH mit folgender Band- und Seitenzahl); ZH‡V,82.
7) A‡U,341.
8) A‡U,317.
9) A‡[,335.
10) ZH‡T,378f.
11) N‡W,421.
12) ZH‡T,378.
13) N‡U,164.
14) ZH‡U,129.
15) N‡U,73.
16) ZH‡U,446.
17) ZH‡U,453.
18) A‡U,350.
19) A‡]2,70.
20) A‡U,349.
21) A‡[,27.
22) A‡[,335.
23) A‡[,333.
24) A‡[,333f.
25) A‡[,27.
26) A‡[,40.
27) A‡[,35.
28) A‡[,40.
29) A‡[,39f.
30) ZH‡X,289.
31) ZH‡X,290f.
32) N‡V,79.
33) ZH‡X,290.
34) ZH‡X,291.
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In: Doitsu Bungaku (Die Deutsch Literatur), hrsg.v. der Japanischen Gesellschaft für Germanistik, Heft 83, Tokyo 1989, S.115-124.