@@@@@@@@@@@@ "Ausleger der Ausleger"
@@@@@@@@@J.G. Hamanns Position zur Hermeneutik‚P
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@ Unter Hamanns Schriften hat die "Aesthetica in nuce" besonders für Germanisten die wichtigste Rolle gespielt. Dabei wurde leider oft zu wenig beachtet, daß der pseudonyme Verfasser dieser Schrift, der Rhapsodist, sich selbst als Ausleger bezeichnet: "die Rhapsoden - Ausleger der Ausleger"‚Q. Diese Selbstbezeichnung, obwohl nur am Ende der Schrift als ein kleines Zitat aus Platons Ion stehend, ist aber sehr wichtig. Die eigentliche Intention dieser Schrift betrifft somit nicht in erster Linie die Ästhetik sondern die Hermeneutik.‚R
@ Hamanns Interesse an der Hermeneutik ist schon in seiner Anfangsphase, nämlich in seinen Londoner Schriften zu beobachten, die bei seiner Bekehrung entstanden. Seine Bekehrung selbst ist als ein hermeneutisches Ereignis zu bezeichnen. In der Not ging Hamann mit der Bibel exegetisch um. Beim zweiten Durchlesen geschah nun seine Bekehrung. Seine damaligen Ausdrücke bezeugen zwar seine Nähe zum Pietismus, aber seine Bekehrung hat mit der pietistisch-subjektiven Hermeneutik nicht viel gemein. Bei Hamanns damaligem Bibelstudium ging es mehr um die objektive Einheit der Heilsgeschichte als um die subjektiv-psychologische Übereinstimmung der Affekte des Auslegers mit biblischen Motiven. Es war die ganze Heilige Schrift als solche, die ihm dort wirkliche Gegenwart wurde. Hamanns Bekehrung ereignete sich also als ein Wortgeschehen, als ein "Ereignis vor dem Text"‚S, wobei die Heilsgeschichte selbst in seiner Person präsent wurde. ‚T
@ In Hamanns Londoner Tagebuch, in seinen "Biblischen Betrachtungen", finden wir einen Begriff, der den Ausgangspunkt all seiner hermeneutischen Überlegungen zeigt, nämlich die "Herunterlassung Gottes"‚U.
@ Das Wort "Herunterlassung", oder auf lateinisch "Kondeszendenz", war im 18. Jahrhundert als "Akkomodationstheorie" eine geläufige Vorstellung.‚V Hamanns "Herunterlassung Gottes" trägt aber eine ganz andere Prägung. Die Kondeszendenz Gottes macht bei ihm kein sekundäres, sondern das primäre Prinzip im Handeln Gottes aus. Hamann setzt die "Herunterlassung" als Schlüsselbegriff für das gesamte von Gott ausgehende Geschehen ein. Gott entäußert sich seiner Majestät in der Schöpfung, in der Inkarnation, aber vor allem in seiner Schrift. Gottes Kondeszendenz ist trinitarisch und in jedem Fall sprachlich, Kondeszendenz zur menschlichen bildhaften Sprache. So schreibt Hamann von der Schöpfung: "Gott offenbart sich - der Schöpfer der Welt ein Schriftsteller."‚W
@ Der Kondeszendenzgedanke hat weitere ontologische Implikationen, die in folgenden drei Merkmalen zusammenzufassen sind: 1) Faktizität 2) sprachliche Ordnung 3) Geschichtlichkeit.‚X
@ 1) Bei der Herunterlassung dringt Gott in die Endlichkeit, in die Begrenztheit des Daseins ein. Gott erniedrigt und beschränkt sich. So schenkt Gott sich der Welt und dem Menschen. Wirklichkeit ereignet sich immer als solch ein einmaliges Handeln Gottes. Mithin wird bei Hamann die Faktizität der Wirklichkeit aufs stärkste betont, und deren Ereignis-, Gegebenheits- und Endlichkeitscharakter werden herausgehoben.
@ 2) Diese Faktizität ist aber keine "bloße" Faktizität, kein zufälliger Haufen von Fakten. Wirklichkeit ist kein Chaos, sondern sie hat als Kondeszendenz Gottes einen Sinnzusammenhang. Die göttliche Kondeszendenz ist immer sprachlich, Kondeszendenz in die Ordnung der menschlichen Sprache. Also nicht nur die Heilige Schrift, sondern auch Natur und Geschichte haben im wesentlichen einen sprachlichen Charakter. Die gesamte den Menschen umgebende Wirklichkeit hat somit die Struktur eines Textes. Natur und Geschichte sind wie die Bibel Textphänomene und kommen als solche dem Menschen entgegen.‚P‚O
@ 3) Wirklichkeit in ihrer Faktizität und sprachlichen Ordnung verstehen, heißt, sie geschichtlich denken. Bei Hamann wird Natur in der Tat als ein sprachliches Ereignis Gottes geschichtlich, d.h. in der Dimension der Zeit verstanden. Wird doch die Schöpfung in der Bibel als die erste Phase der geschichtlichen Handlungen Gottes beschrieben. So nennt Hamann die Schöpfung "eine Erzählung"‚P‚P und nimmt an, daß sie als ein narratives Ereignis final, d.h. von ihrer "Absicht" her verstanden wird. Er kehrt mithin die Naturalisierung der Geschichte im Denken der Aufklärung um und setzt sich deren Forderung entgegen, "die Schöpfung als eine natürliche Begebenheit zu erklären"‚P‚Q. Natur soll eher von der Geschichte her verstanden werden. Denn Wissenschaften und alle Beschreibungen der Wirklichkeit sind als Überlieferung von der Geschichte tradiert. Hamann besteht darauf, daß die biblischen Schriften in ihrer Aussage historisch bedingt sind. Das gilt aber auch für die Bibelkritik selbst. Ihre Vorentscheidung, daß biblische Berichte theoretisch und begrifflich zu erklären seien, ist auch an ihre eigene Zeit gebunden. Hamann weist eine solche Position zurück und wählt eine andere Vorentscheidung, daß die Wahrheit nämlich nur narrativ, nur in einer Erzählung, d.h. in einem Mythos ausgedrückt werden kann. Hamann geht davon aus, daß "der Schöpfer der Welt ein Schriftsteller" ist, weil die Menschensprache sinnlich-bildhaft bedingt ist.@Bei Hamann haben somit auch Natur und Geschichte die Struktur eines Textes. Sie sollen als Erzählung final, d.h. nach der Absicht ihres Autors auf ihr Ende hin verstanden werden. ‚P‚R
@ Von dieser Kondeszendenzauffassung geht Hamanns exegetische Überlegung aus. Dabei ist sein hermeneutischer Standpunkt als "Typologie" zu bezeichnen.
@ Typologie ist ursprünglich als eine Position der biblischen Hermeneutik entstanden und will die sinnlich-bildhafte biblische Geschichte als Heilsgeschichte einheitlich verstehen. Auch die Allegorese sucht in den biblischen Sinnbildern eine im Text verborgene Dimension und findet jeweils in einem Gleichnis eine allgemeine, ewig geltende Wahrheit. Die typologische Auslegung wird jedoch von der allegorischen strikt unterschieden. Denn sie deutet eine geschichtliche Begebenheit als Vor-bild und sucht dessen Korrespondenz wieder in der Geschichte, wie Paulus in Christus den zweiten Adam sah. Dabei bleibt die Begebenheit geschichtlich-faktisch und wird nicht in irgendeine zeitlose Wahrheit aufgelöst. Alle Typen der Geschichte sind faktisch einmalig und durch nichts ersetzbar. Hamann hält zwar an einem mehrfachen Sinn der Schrift fest. Aber er liest die Bibel nicht allegorisch, sondern typologisch. ‚P‚S
@ Er beschränkt sich dabei nicht auf die Bibelauslegung, auf das objektive Feststellen von Typus und Antitypus, sondern er verbreitert die Typologie auf Grund seines Offenbarungsverständnisses zur ganzen Wirklichkeit, die als Text Gottes in einem Sinnzusammenhang steht. Auf Grund der Urerfahrung der Kondeszendenz lernt Hamann Bibel, Natur und Geschichte als trinitarische Einheit der göttlichen Erzählung typologisch zu lesen. In den "Sokratischen Denkwürdigkeiten" wird somit Sokrates, ein heidnisch-vorchristlicher Denker in der Weltgeschichte, als Typus Christi heilsgeschichtlich dargestellt.‚P‚T
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II
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@ Es stellt sich nun die Aufgabe, Hamanns Haltung zur Hermeneutik grundsätzlich in die damalige Entwicklung des hermeneutischen Denkens einzuordnen. Wie am Anfang schon angemerkt, beschäftigte sich Hamann in der "Aesthetica in nuce" mit dem Problem der Hermeneutik, einem vorwiegend biblisch-exegetischen Problem, das vor allem mit der "Neologie" zu tun hatte. Neologie bezeichnet eine Position damaliger protestantischer Theologie, die den vermittelnden Weg zwischen Orthodoxie und Rationalismus ging. Dabei wollte sie die Grundthese des Christentums mit den Lehren der aufklärerischen Zeitbewegung in Einklang bringen.‚P‚U
@ Als einer der bedeutendsten Neologen galt unter anderem J. S. Semler. Er verwarf zwar die herkömmliche Lehre von der "Illumination des Geistes" nicht, setzte sie aber mit dem "Licht der Vernunft" gleich. So wurde bei ihm doch der traditionelle Begriff der Offenbarung preisgegeben. Bei Semler wurde also der Grund dafür gelegt, daß die philologia prophana zum universalen Prinzip der Hermeneutik erhoben und sogar in der philologia sacra angewandt wird.‚P‚V
@ Der eigentliche Gegenpart, der in der "Aesthetica in nuce" von Hamann zum Dialog aufgefordert wurde, hieß aber J. D. Michaelis, der damals als einflußreicher Theologe und Orientalist geachtet wurde. Heute wissen wir, daß Michaelis als Neologe einen gemäßigteren Weg als Semler gegangen ist. Obwohl er sich dem Gedanken der Aufklärung zutiefst verpflichtet wußte, bemühte er sich zugleich, die Positionen der Orthodoxie beizubehalten. Bei all dem ist aber nicht zu verkennen, daß der Begriff Offenbarung bei ihm aufgeweicht und relativiert wird.‚P‚W
@ Hamann setzt sich dort mit Michaelis auseinander, wo dieser vor allem die lutherische Lehre von der Autopistie in Frage stellt, indem er die objektive Rationalität als Kriterium der biblischen Philologie aufstellt.
@ Hamann hält dabei sowohl an einem mehrfachen Sinn der Schrift als auch an der lutherischen Position vom "testimonium spirutus sancti internum" fest. Er bezieht sich also auf den älteren, pneumatologischen Standpunkt, von dem aus die Schrift als Weissagung anerkannt wird.‚P‚X Er weiß aber sehr gut, daß es auch einen anderen Standpunkt gibt, für den die Schrift nicht zuerst Wort Gottes bedeutet, nämlich den Standpunkt, der damit später zunehmend historisch-kritisch umgehen will. Hamann verstand die Tradition somit als Feld der hermeneutischen Fehde und sah da seinen Auftrag als Philologe. Er sieht sich dabei in jenem bekannten Gegensatz von "Geist und Buchstabe"‚Q‚O. Er besteht darauf, daß die Neologie nur mit dem Buchstaben der Bibel zu tun hat. Das heißt aber keineswegs, daß die Neologie den Knoten der biblischen Hermeneutik, nämlich das Problem pneumatologischer Auslegung, nicht kennt. Die Neologie interessiert sich ihrerseits für die damalige Bedeutung des Christentums im Zeitalter der Aufklärung und versucht, sie auf Grund des neuzeitlichen Rationalismus in der moralischen Überlegenheit der christlichen Botschaft zu finden.‚Q‚P Hamann sieht aber ein, daß sich solch ein moralisches Verständnis vielmehr auf die Entfremdung des christlichen Offenbarungsbegriffs stützt. Dieser Versuch verhindere somit eher das eigentliche Verstehen der christlichen Botschaft.‚Q‚Q
@ Wenn Hamann sich auf diese Weise in den Gegensatz von "Geist und Buchstabe" stellt, so wird der Geist zwar dem Buchstaben, aber niemals der Sprache gegenübergestellt. Der Geist bezieht sich bei ihm vielmehr eben auf das "Lesen" der Sprache und verwirft nie die Buchstaben an sich. Hamann versteht mithin diesen Konflikt vielmehr als hermeneutischen Streit der verschiedenen Geister und weiß auch andere Standpunkte zu achten. Er weist dabei auf eine hermeneutische Willkür der Neologie hin, daß sie nämlich die historische Begrenztheit des Textes nicht genügend reflektiert und die aufklärerische Moral, die eigentlich dem Text heterogen und insofern an sich sehr subjektiv ist, einfach zum Maßstab der Auslegung macht. Solchem bloßen Vertrauen in die subjektive "gesunde Vernunft" setzt Hamann beißende Ironie entgegen. Für Hamann heißt der Versuch der Neologie nichts anderes als Entfremdung der Theologie gegenüber dem traditionellen Grund der Bibelhermeneutik, d.h. überhaupt die Selbstentfremdung des Auslegers gegenüber der Absicht des Textes.
@ Hamann seinerseits hält an einer älteren hermeneutischen Position fest, weil er dort, im Begriff des mehrfachen Schriftsinnes, der mit seiner Typologie fest verbunden ist, eine Reflexion über den Sinn der hermeneutischen Tätigkeit und über ihre Grenze findet. Er weiß, daß eine Überlieferung uns keineswegs vollkommen vorliegt. Alles, was die Geschichte uns tradiert, ist lückenhaft. Als Überlieferung ist es historisch bedingt und insofern für uns nur als Mythologie vorhanden.‚Q‚R Wer davor steht, muß den zeitlichen Abstand und den Sinn des Vermittelns mitreflektieren. Eine Überlieferung ist für uns aber andererseits als gewisse Autorität vorhanden, auf die ein jeder verpflichtet ist. Sie macht als Tradition eine Bedingung des einzelnen Daseins aus. Dabei handelt es sich bei Hamann um die Auslegung der Auslegung, d.h. eine Mythologie weiter final, nämlich auf ihre eigentliche Absicht hin zu erzählen. So entsteht ein neues Verständnis, das aber weiter als Mythos überliefert wird. In diesem Sinne ist ein Philologe auf den Sinn des Textes verpflichtet. Hamann besteht darauf, daß diese Position mehr der Sache der biblischen Hermeneutik angemessen sei als die der Neologie. Die lutherische Lehre der Autopistie, der sich selbst bezeugenden Autorität der Schrift, und vom "testimonium spiritus sancti internum" beansprucht überhaupt eine solche Autorität des Textes. Die Neologie lehnt diese Autorität des Textes ab. So wird ein Philologe auf keinen Sinn des Textes verpflichtet. Dadurch wird aber der Sinn der hermeneutischen Beschäftigung überhaupt geleugnet.
@ Wenn Hamann auf die Verpflichtung eines Philologen zum Textsinn hinweist, handelt es sich zunächst um ein allgemein hermeneutisches Problem. Dabei spielt aber auch noch ein rein reformatorisches Motiv eine Rolle. Wenn man nämlich den typologischen Sinn des Textes ergreifen und ihn weiter vermitteln soll, gibt es dort eigentlich kein Privileg für einen Philologen. Denn dabei handelt es sich nur darum, ob man sich zum Text hermeneutisch produktiv verhält, und ob das Verständnis des Sinns jeweils zum existentiellen Ereignis wird. Hamann betont mithin zum einen die sinnschöpfende Aktivität des Lesers, zum anderen aber auch den Ereignischarakter der Auslegung. In diesem Sinne kann es unter den Lesern eigentlich keinen Unterschied geben. Das ist bei den Neologen anders. Bei der Neologie ist eine Apolie der protestantischen Hermeneutik zum Ausdruck gekommen. Sie besteht vor allem darin, daß die Orthodoxie im Gegensatz zum katholischen Autoritätsanspruch das Prinzip der scriptura sui ipsius interpres betont und weiter entwickelt, so daß die biblische Philologie schließlich sich selbst als höchste Instanz der biblischen Auslegung darstellt.‚Q‚S Hamann sieht in solchem Hochmut der biblischen Wissenschaft die Entstehung des neuen Papsttums, weil dort das reformatorische Prinzip vom "allgemeinen Priestertum aller Gläubigen" verleugnet wird. ‚Q‚T
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III
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@ Nun gilt es festzustellen, wie diese hermeneutische Position weiter in den späteren kritischen Schriften Hamanns durchgeführt wurde. Als Zeuge ahmte Hamann treu den Charakter der göttlichen Herunterlassung nach. Er ließ sich nämlich zur Situation des Gegenparts herab und paßte sich ihr in seinen eigenen Schriften an. Das gründete in seiner Auffassung der göttlichen Offenbarung als Dialog, wonach die Wahrheit für die Menschen immer kommunikativ ist. Das Verstehen des Menschen kann, nach Hamann, intersubjektiv bei der Diskussion entstehen.‚Q‚U
@ Neuere Forschungstendenzen unterstützen meine These, daß Hamann in seinen Werken nicht nur Kritik an den aufklärerischen Versuchen seiner Zeit übt, sondern auch deren Problematik mitthematisiert und damit die Aktualität der deutschen Literatur und Philosophie des 18. Jahrhunderts für die Gegenwart als repräsentativ bezeugt.‚Q‚V Dabei bieten besonders seine späten Schriften einen sehr geeigneten Ansatzpunkt. Denn er verlieh besonders dort seiner zweifachen Kritik, die von Anfang an die Tradition mitbedachte, einen wesentlichen Ausdruck, indem er sein gesamtes Schaffen als "Metakritik" charakterisierte. Diese "Metakritik", nämlich die Kritik der Kritik, ist es, die sich zur damaligen Förderung der Aufklärung philologisch-kritisch verhält und ihre Einseitigkeit ans Licht bringt. Dabei ist seine Metakritik so radikal, daß er mit den Urquellen der Tradition, vor allem mit der Bibel, philologisch umgeht und von dem so neu entstandenen Horizont her die zeitgenössischen Fragestellungen überprüft. Eben das ist der Ausgangspunkt, von dem aus die eigentliche Kritik dann im philologisch-hermeneutischen Verhältnis zur Tradition auch eine bewahrende Funktion aufnehmen kann. Bewahrung heißt bei Hamann keineswegs hartnäckiges Festhalten am Herkömmlichen, sondern das ständige Hören auf die Wahrheitsmomente der Überlieferung. Hamann wußte selbst, im Gegensatz zu seinen zeitgenössischen Aufklärern, den Menschen in der ganzen neuzeitlichen, ja in der gesamten Tradition der menschlichen Geschichte zu verstehen und eben darin seine Bestimmung und deren Problematik zu verdeutlichen. So war er in eminentem Sinne Aufklärer, zu denen nur wenige gezählt werden können.
@ Hamanns Argumentation gegen die Aufklärung ist keineswegs eine totale Absage an die damaligen aufklärerischen Tendenzen, sondern ist vielmehr gegen deren "Hochmut" gerichtet. Das läßt sich eben in seiner Auseinandersetzung mit Mendelssohn beobachten. 1784 verfaßte Hamann "Golgatha und Scheblimini" und mit dieser Schrift bekämpfte er Mendelssohn. Dieser hatte sich in seiner 1783 erschienenen Schrift "Jerusalem oder über die religiöse Macht und Judentum" bemüht, die politische Emanzipation des jüdischen Volks dadurch zu erreichen, daß er zwischen Judentum und Aufklärung vermittelte. Dabei versuchte er die vernünftig-natürliche von der geschichtlich-positiven Religion zu unterscheiden und das Judentum mit der ersteren zu identifizieren. Mit seiner aufklärerischen Auffassung vom Naturzustand behauptet er, daß die jüdischen Gesetze mit dem "Naturrecht" übereinstimmten, das nicht zeitlich-geschichtlich begrenzt, sondern zu allen Zeiten und an allen Orten verständlich sei. Er erklärt somit das Judentum zur universalen Vernunftwahrheit.
@ Hamann kritisiert, daß der Jude Mendelssohn gerade dasselbe tut, was die christlichen Neologen dem Alten Testament gegenüber tun.‚Q‚W Denn Mendelssohn ignoriere die biblische Schöpfungsgeschichte, indem er die aufklärerische Auffassung von Natur und Gesellschaft in seiner Darlegung voraussetze. Demgegenüber bezieht sich Hamann seinerseits auf die eigentlichen Voraussetzungen des Judentuns (und des Christentums). Nach dem Schöpfungsbericht ist nämlich der Mensch im Naturzustand schon "Pflichtträger der Natur"‚Q‚X. Der Mensch ist somit von seinem Ursprung her sittlich bestimmt und trägt die Verantwortung für alle Kreaturen. Nach Mendelssohn ist es aber ein Naturgesetz, daß der Mensch, der im Stande der Natur unabhängig, niemandem verpflichtet und Herr über das Seinige sei, sich alles als Stoff für seine Entwicklung verfügbar mache. Solch eine unbegrenzte Selbsterweiterung entspricht aber eben dem Geist des Königs von Preußen, der damals allein "im Stande der Natur"‚R‚O@lebte. Hamann erkennt, daß der aufgeklärte Absolutismus und der damalige Rationalismus gleichen Ursprungs sind und daß Mendelssohn, ohne es selbst zu wissen, die despotische Herrschaft in Preußen gerade mit seinem Befreiungsprogramm des jüdischen Volks unterstützt. Hamann behauptet, daß sich Mendelssohn mit seinem aufklärerischen Standpunkt von seinem jüdischen Element entfremdet habe und schließlich Ideologe des friderizianischen aufgeklärten Absolutismus geworden sei.‚R‚P
@ Hamann tadelte also keineswegs den Emanzipationsprozeß der Aufklärung, sondern kritisierte die hochmütige Einseitigkeit der Aufklärer, d.h. "die Bevormundung durch eine einseitige Emanzipationstendenz"‚R‚Q. Hamanns "Kritik" ist somit ihrem Wesen nach Metakritik, die notwendig die moderne Kritik der Aufklärung voraus- und fortsetzt. Sie ist aber auch Metakritik, die weder in der jeweiligen Wirklichkeit noch in der bloß kritischen Haltung zu dieser Wirklichkeit bleiben kann, sondern sich zu beiden immer kritisch verhält.‚R‚R@Die Kritik soll, nach Hamann, immer gleichzeitig von der Selbstkritik des Kritisierenden begleitet werden, wobei also nicht ein apriorischer Maßstab, mit dem man alles überprüfen kann,@sondern "die Billigkeit" erfordert wird, "den Verfasser blos mit sich selbst und keinem andern, als seinem eigenen,@von ihm gegebenen Maasstabe zu vergleichen"‚R‚S. Mithin ist leicht verstehbar, daß es sich bei Hamann nicht um das bloß begriffliche Entweder-Oder zwischen "Offenbarung und Vernunft" handelt, sondern um das Lesen, d.h. um die philologisch-hermeneutische Haltung zur Tradition, damit ein neuer Horizont des Wirklichkeitsverhältnisses eröffnet wird.‚R‚T
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IV
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@ Zum Schluß gilt, konkret festzustellen, wie die Kritik bei Hamann mit der philologisch-hermeneutischen Tätigkeit verbunden wird.
@ Hamanns Metakritik der aufklärerischen Kritik enthält in sich schon etwas höchst Positives, nämlich sein philologisch-hermeneutisches Verhältnis zur gesamteuropäischen Tradition, das eben aus seiner Einsicht in den dialogischen und geschichtlichen Charakter der Sprache stammt. Auf Grund dieser Auffassung der Sprachwirklichkeit oder vielmehr der Auffassung der Wirklichkeit als Sprache will Hamann nicht nur die intellektualistisch-säkularisierende neue Tendenz der religiösen Auffassungen, sondern überhaupt den neuzeitlich-aufklärerischen Fortgang zur menschlichen Autonomie von Grund auf in Frage stellen.
@ Hamanns Metakritik bezieht sich auf die Sprachwirklichkeit eines Werkes, die zwar der Autor selbst ist, die aber manchmal ihm selbst nicht verfügbar ist. Dabei besteht die Aufgabe der Kritik im richtigen "Lesen" der vorhandenen Sprache und dann in der richtigen Wiedergabe des Gelesenen, wobei sich die Hermeneutik mit dem "Verkündigen", d.h. mit der Rhetorik verbindet. Hamann weiß um die enge Beziehung der Hermeneutik zur Rhetorik und wollte sie in seinen eigenen Schriften realisieren. Nach seiner Auffassung der Wirklichkeit als Text Gottes schreibt er mit einer Fülle verschiedener Bilder, die miteinander typologisch korrespondieren. Dabei verwendet er aber diese Bilder frei von theologischen Traditionen und verbindet biblische Bilder sogar mit Motiven der heidnischen Mythologie. Er schafft aus verschiedenen Zitaten, die kulturell gar nichts gemein haben, ein zusammengefügtes Bild. Dadurch entsteht das "sibyllinische" Aussehen (Goethe)‚R‚U seiner Rede. Entsetzen unter der Leserschaft war die Folge. Mit diesem Entsetzen ist er aber ins Herz des Lesers eingedrungen. Mit seinem Stil verfolgt Hamann einen hermeneutisch-rethorischen Zweck. Er verkündet nämlich die göttliche Rede in der Geschichte, indem er sie "philologisch" nachahmt. Das ist eben seine "kerygmatisch aktualisierende Typologie"‚R‚V.
@ Als ein Beispiel ist nun auf seine eschatologisch-apokalyptische Bildersprache hinzuweisen.
@ Hamanns Absicht bei der Aufnahme des apokalyptischen Stils läßt sich dann richtig einschätzen, wenn sie kulturhermeneutisch mit der biblisch-prophetischen Tradition verglichen wird. Hier sollen nun neuere Ergebnisse der alttestamentlichen Wissenschaft als Ansatz vorausgesetzt werden. Das Wesen der frühen Apokalyptik ist nämlich in folgendem zu sehen: In der Zeit der Propheten, etwa bis in die Zeit von Deuterojesaja, hatte das israelitische Volk immer noch starke Sehnsucht nach einer politischen Befreiung. Diesem Volk gegenüber redeten die Propheten konkret über einzelne Ereignisse der Politik. In dieser Tradition der "klassischen" Prophetie stand auch Deuterojesaja, obwohl er schon eine neue eschatologische, universal die damalige ganze Welt umfassende Hoffnung hegte, die später von der frühen Apokalyptik übernommen wurde. Nach der Heimkehr des Volkes Jsrael schlägt aber die Stimmung im Volk ins Gegenteil um. Die verwirklichte Befreiung hatte nämlich eine politische Enttäuschung gebracht, was vor allem mit der sozialen Situation der Zurückgekehrten, die meist arm und am unteren Ende der gesellschaftlichen Rangordnung angesiedelt waren, zu tun hatte. Die Menschen erwarteten nun ihre letzte Erlösung direkt von der Hand Gottes. Unter den "enttäuscht-traurigen" Menschen spricht der vom Geist Ergriffene auch nicht mehr wie die großen Propheten. Der Tröstende ist selbst ein Leidender, nach der letzten Freude sich Sehnender. Dieses neue Bewußtsein der Solidarität im Leiden ist der Hauptcharakter der frühen Apokalyptik. Die Anonymität bzw. die Pseudonymität ihrer Schriften stammen ursprünglich aus diesem Bewußtsein. Die Tätigkeit der frühen Apokalyptik ist nun darin von der der Prophetie unterschieden, daß sie die (durch die Propheten) schon gegebenen Worte Gottes unter der neuen, veränderten Situation wieder auslegt. Weil ihr diese neue Auslegung vom Geist Gottes offenbart wird, heißt sie "Apokalyptik (Enthüllung)". Die Propheten legten zwar ihrerseits schon die vorigen Propheten aus, aber der Geist, der dem Apokalyptiker gegeben wird, ist nicht mehr der Geist der Prophetie wie bei den Propheten, sondern der der Auslegung. Apokalyptik heißt somit Auslegung der Prophetie, d.h. Auslegung der Auslegung. Das ist auch eines der wichtigsten Merkmale der Apokalyptik. Diesem neueren Stand der Forschung zustimmend, bezeichnen wir die Apokalyptik als solch eine geistig-religiöse Haltung, die zwar ursprünglich mit der Prophetie verwandt ist, die aber mit ihrem Bewußtsein, sich in einer neuen, veränderten Zeit zu befinden, und in ihrem Versuch, eine neue Situation zu bewältigen, von der Prophetie strikt unterschieden wird.
@ In der Schrift "Fliegender Brief" (1786) setzt Hamann seine Kritik gegen Mendelssohn fort, indem er dessen Jerusalemverständnis prüft und ihm seine eigene Deutung gegenüberstellt. Hamann geht dabei mit den verschiedenen Auslegungen des Namens Jerusalem hermeneutisch um. Der Name hat geschichtlich zwei Dimensionen. Die Stadt@Jerusalem ist einmal von den Römern rücksichtslos zerstört worden und hat zu Hamanns Zeit nur als Symbol des Gerichts ihre Bedeutung behalten. Zerstörung jerusalems ist ein objektives Faktum der Geschichte. Mit@dieser Sichtweise teilt Hamann sicherlich den Standpunkt von Herders "Maran Atha".‚R‚W Aber die Weissagung über diese Stadt ist damit noch nicht ausgeschöpft. Das vergangene Gericht über Jerusalem, eine faktische Tatsache dieser Stadt, versichert das Vertrauen auf die Verheißung, die apokalyptische Hoffnung auf den neuen Himmel und die neue Erde. Der Name enthält mithin sowohl einen geschichtlich-faktischen als auch einen prophetisch-eschatologischen Sinn. Mendelssohn will von beiden nichts wissen. Hamann sieht in dieser Selbstentfremdung Mendelssohns gerade die ironische Erfüllung der Weissagung über Jerusalem in seiner Zeit. Wenn Mendelssohn nämlich darauf besteht, sein Judentum mit der Aufklärung zu identifizieren, stellt Hamann dieser Täuschung das Bild des apokalyptischen Gerichts entgegen: "Jerusalem blieb fürder an ihrem Ort zu Jerusalem; wurde aber im Sinn zum Taumelbecher, zum Laststein, zum feurigen Ofen im Holtz, zur Fackel im Stroh‚R‚X, zum Babel der religiösen Macht."‚S‚O Hier tritt die dritte Dimension der Jerusalem-Deutung deutlich in den Vordergrund: das Gericht über die gegenwärtige Berliner Aufklärung. Das Ganze wird hier aufs neue aktuell und in den gegenwärtigen Horizont der Jerusalem-Interpretation gestellt: Friedrichs Berlin, "das babilonische Jerusalem"‚S‚P, der Ort der Unterdrückung und Sprachverwirrung. Gericht und Gnade stehen nun in völlig neuem Zusammenhang zueinander.
@ Sacharjas Bilder vom Gericht über Jerusalem werden hier angewandt, und zwar mit einigen kleinen Veränderungen. Im Buch Sacharja selbst soll Jerusalem eigentlich "zum Taumelbecher für alle Völker ringsherum zu[ge]richte[t]"‚S‚Q@werden, damit es sie "trunken" machen kann. Jerusalem solle "zum Laststein für alle Völker" werden und als "Feuerbecken im Holz" bzw. als "Fackel im Stroh" "alle Völker ringsumher"‚S‚R verzehren. Das heißt also, daß die Feinde Israels schließlich von Israel selbst bestraft und Rache an ihnen genommen wird. Hamann erwähnt davon nichts und deutet dadurch ironisch an, daß die letzte Entscheidung lediglich Jerusalem selbst betrifft, indem die Stadt in der von ihr selbst gewünschten Trunkenheit belassen wird - die schlimmste Strafe in der Bibel. Der prophetisch- apokalyptische Ausdruck der Ironie, wie sie z.B. in der Jesaja-Apokalypse zu finden ist,‚S‚S paßt genau zu der Situation, daß der Gerichtete sich seines eigenen Schicksals nicht bewußt ist und weiter in seinem Optimismus verharrt. Hier werden die theologischen und literarischen Vertreter der Berliner Aufklärung direkt ins Auge gefaßt. Das damalige Gedeihen der Berliner Aufklärung ist mit der Lage der Stadt identisch, die als "Thron und Stuhl des Thiers"‚S‚T zum Jüngsten Gericht bestimmt ist. Das Gerichtswort weist aber auf etwas hin, worauf sich die Hoffnung stützen kann: "Selbst der güldene Kelch Babel, der alle Welt truncken macht, ist in der Hand des HERRN."‚S‚U
@ Wie gerade gezeigt, beschäftigt sich Hamann in diesen letzten Schriften mit vielen Bildern der prophetisch-apokalyptischen Schriften. Die Bilder werden dabei mit höchst aktuellem Bezug auf seine Gegenwart, vor allem auf die Berliner Aufklärung, aufgeladen und konstituieren so selbst etliche eschatologisch- apokalyptische Perspektiven von Gericht und Hoffnung. Hamann ist sich dabei seiner Sendung höchst bewußt, der Sendung als "Ausleger der Ausleger". Es handelt sich nämlich bei Hamanns Umgang mit der apokalyptischen Sprache nicht bloß um eine Auslegung der prophetisch-apokalyptischen Schriften, sondern um die kulturhermeneutische Einsicht in die Wirklichkeit der politisch-gegenwärtigen Geschichte. Hier werden (anders als bei Herder) die faktische Erkenntnis der Gegenwart und die prophetisch-hermeneutische Schau in die Zukunft sowie in die Vergangenheit sehr eng verbunden. Hamann geht es weder um die mathematisch- chronologische Berechnung der Zukunft (Bengel) noch um die historisch-faktische Feststellung der Vergangenheit als Vorstufe eines sentimentalischen Fantasiesprungs (Herder), sondern um die metakritische Konfrontation mit der Gegenwart im Horizont der christologisch-eschatologischen Hoffnung. Apokalyptik ist kein Selbstzweck, sondern geht immer mit einer Metakritik des kritischen Zeitgeistes parallel. Apokalyptische Bilder sollen dazu dienen, die gegenwärtige Situation aufs eindrucksvollste zu erhellen. Hamanns eschatologisch-apokalyptische Sprache ist auf diese Weise mit seiner hermeneutisch-kritischen Tätigkeit fest verbunden.‚S‚V
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Anmerkungen
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1. Der wesentliche Teil dieser Arbeit wurde während meines Deutschland- aufenthaltes im Jahr 1992/93 konzipiert, für den ich der Alexander von Humboldt- Stiftung und ihrer großzügigen Unterstützung zu Dank verpflichtet bin. Mein aufrichtiger Dank gilt meinem Lehrer und Gastgeber Prof. Bernhard Gajek (Regensburg), dem diese Arbeit gewidmet ist.
2. Hamann, Johann Georg: Sämtliche Werke Bd. 1-6, hrsg. v. J. Nadler, Wien 1949-1757 (N mit folgender Band-, Seiten- und Zeilenzahl); N II 217, 20.
3. Bei dem Ausdruck "Aesthetica" handelt es sich bei Hamann um aisthesis, um die Erkenntnis durch die Sinne, die als allumfassendes Auslegungsprinzip jeder Erkenntnis zu Grunde liegt. Vgl. Jørgensen, Sven-Aage: Hamanns hermeneutische Grundsätze. In: Aufklärung und Humanismus, hrsg. v. R. Toellner, Heidelberg 1980, S. 219.
4. Vgl. Bayer, Oswald: Autorität und Kritik. Zu Hermeneutik und Wissenschaftstheorie. Tübingen 1991, S. 17ff.
5. Hamann hörte nämlich, als er das fünfte Kapitel des fünften Buches Mose las, eine Stimme in seinem Herzen und erkannte sich als Kain, als "Brudermörder" des "eingeborenen Sohnes". Diese Stimme, die ihm zwar nichts anderes als die des Gerichts Gottes bedeutete, brachte ihm aber ein Erlebnis, das er "die neue Geburt Christi in unserem Herzen" nannte. Er las zwar im Schicksal des jüdischen Volks im Alten Testament die Beschreibung seines eigenen Lebenswegs, aber es war aber die ganze Heilige Schrift als solche, die ihm wirkliche Gegenwart wurde.
6. N I 5, 3; u.a.
7. Das Wort "Herunterlassung" oder auf lateinisch "Kondeszendenz" hat als ein Offenbarungsbegriff eine Tradition, eine theologische Begriffsgeschichte zum Hintergrund. Es war ursprünglich ein Begriff aus der griechischen Rhetorik ("sygkatabasis") und bedeutete die "Anpassung des Redners an das Publikum", das ein schwächeres Einsichtsvermögen besitzt. "Kondeszendenz" wurde dann theologisch im Sinne eines sekundären Mittels gedeutet, das der sich offenbarende Gott ob der Mangelhaftigkeit menschlicher Denkkraft zu Hilfe nimmt. Dies war im 18. Jahrhundert als "Akkomodationstheorie" eine geläufige Vorstellung.
8. N I 5, 2. Mit der Schriftstellerlei Gottes deutet Hamann also nicht bloß die traditionell-orthodoxe Lehre der Inspiration an.
9. Gründer, Karlfried: Figur und Geschichte. Johann Georg Hamanns "Biblische Betrachtungen" als Ansatz einer Geschichtsphilosophie. Freiburg/München 1958, S. 85ff.
10. Es liegt im Wesen der Sprache, daß das Zeigen zugleich ein Verhüllen ist. In diesem Sinne kommt uns eine Erzählung immer als Mythos vor, der zunächst einer Auslegung bedarf. Bei der göttlichen Kondeszendenz zur menschlichen Sprache wird die Verhüllung im doppelten Sinne zugespitzt, weil die Erzählung nur posteriora Dei zeigt. Offenbarung und die menschliche Sprache stehen keineswegs in einem kommensurablen Verhältnis, sondern die Kondeszendenz Gottes zur menschlichen Bildersprache stellt im Grunde Skandalon dar. "Herunterlassung Gottes" birgt bei Hamann, wie die lutherische theologia crucis, gerade einen paradox- polemischen Charakter. Auch in diesem Sinne ist sie das eigentliche Handeln Gottes.
11. N I 11, 34.
12. N I 11, 31f.
13. Vgl. Bayer: A. a. O., S. 89ff.; Jørgensen, Sven-Aage: A. a. O., S. 222.
14. Hamanns Bekehrung ist eben als das Ergriffenwerden von der typologischen Struktur der ganzen Wirklichkeit zu deuten. Abels Tragödie wurde dabei als Typus vom Versöhnungstod Christi in ihm ein unleugbar schreiende Gerichtsstimme, die schließlich sein ganzes Dasein umkehrte. - Bei der typologischen Auslegung wird somit eine gewiße räumlich-zeitlich begrenzte, geschichtliche Begebenheit (sensus literalis) einem Dasein in einem anderen Geschichtszusammenhang (dem des Auslegers) gegeben. Die Begebenheit ereignet sich dann auch in diesem Dasein, und zwar in dessen sprachlicher Ordnung, wobei die geschichtliche Distanz an sich nicht aufgehoben wird. Bei diesem Vorgehen bleibt die geschichtliche Faktizität beiderseitig unverändert. Und doch entsteht das vergangene Ereignis im Ausleger aufs neue in einem neuen sprachlichen Zusammenhang (sensus typologicus), was schließlich selbst eine allumfassende Sprachordnung wie die Muttersprache bzw. die Tradition in eine neue umbilden kann. Vgl. Goppelt, Leonhard: Typos. Die typologische Deutung des Alten Testaments im Neuen. Gütersloh 1939.
15. N II 68, 17f.; u.a.
16. Angesichts des radikalen Rationalismus versuchte die Neologie, die entscheidenden Substanzen der christlichen Religion vor dem Urteil der völligen Verwerfung zu retten, indem sie unter dem Einfluß des Pietismus neben dem rationalen Gesichtspunkt psychologische und moralische Orientierungen maßgebend sein ließ. Über Hamanns Verhältnis zur pietistischen Hermeneutik siehe den Anhang dieser Arbeit!
17. Semler führt in der "Abhandlung von freier Untersuchung des Canons" (1771) die Grundregeln der "critica profana" in die Bibel ein, so daß der biblische Kanon einer konsequenten Kritik unterworfen wurde. Ein Kritiker, der den Sprachgebrauch der Bibel und die historischen Umstände einer biblischen Aussage genau kennt, kann unbefangen in die geschichtlich gewordene Überlieferung des Kanons eingreifen. Nun ist der auslegende Mensch in der Begegnung mit der Bibel die maßgebende Autorität. (Vgl. Kraus, H.-J.: Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments. Neukirchen 1956, S.87ff.) Die Neologie will alle Texte, vor allem den sakralen, von der critica profana her verstehen. Für Hamann sind aber umgekehrt alle Texte, Natur und Geschichte sakral. Was Hamann über die Überlieferungen äußert, gilt nicht nur für die Heilige Schrift, sondern auch für Natur und Geschichte, also für alles, was als Text zu lesen ist. So setzt Hamann die Einheit aller Texte, der ganzen Wirklichkeit voraus. Und er macht die Typologie zu einem universal-allgemeinen hermeneutischen Prinzip.
18. Michaelis steht ja im Zwielicht. In seinem "Entwurf einer typischen Gottesgelahrtheit" (1753) versucht er z.B. die traditionelle Typologie, auf die sowohl die Orthodoxie als auch der Pietismus sich stützen, systematisch zu klassifizieren. Zwar verwirft er die Typologie an sich keineswegs. Ihm scheint sie aber allzu subjektiv-willkürlich, weil sie traditionell mit dem Dogma des mehrfachen Schriftsinnes verbunden sei, das ja einen Ausleger zu beliebigen Interpretation veranlassen könne. Michaelis versucht also, Methoden einer vernunftgemäßen typologischen Auslegung zu finden, indem er sich um "eine rationale Differenzierung der herkömmlichen Typologie" bemüht.
19. Vgl. Jørgensen: A. a. O., S. 229.
20. Vgl. N II 203.
21. Vgl. Kimmerle, Heinz: Typologie der Grundformen des Verstehens von der Reformation bis zu Schleiermacher, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, 67, 1970, S. 176.
22. Vgl. N II 211.
23. Vgl. N II 65, 10; Jørgensen: A. a. O., S. 223ff.; Ders.: Gott ein Schriftsteller. Anmerkunge zu Hamanns Ästhetik. In: Literatur und Religion, hrsg. v. H. Koopmann u. W. Woesler, Freiburg/Basel/Wien 1984, S. 124.
24. Wenn Michaelis z.B. die traditionelle Typologie klassifiziert, ist es der sachkundige Philologe, der als Autorität der Auslegung die Laien ("Idiot") belehren soll. Hamann übersieht dabei die Arroganz des Philologen nicht, wenn dieser auf diese Weise eine Bevormundung des Laien für sich in Anspruch nimmt.
25. Hamanns hermeneutische Position ist mithin sein Bekenntnis zum Luthertum und dessen "sanctorum communio". Auch die Neologie setzt eine Gemeinschaft der Vernunft voraus. Dort solle das Licht der Vernunft, zwar nicht allen Menschen, doch allen wissenschaftlichen Auslegern gemeinsam und gleich verteilt sein. Diese Gemeinschaft ist aber nach Hamann bloß ein Spiegelbild der "sanctorum communio" und eben von ihr abhängig. In diesem Zusammenhang sind auch Hamanns "Kritiker"-Schriften zu berücksichtigen. Hamann beurteilt in diesen Schriften die Rolle des Autors, der Leser und der Kritiker. Die Rolle und Funktion des "Kunstrichters" werden dabei zwar von ihm nicht sofort abgelehnt, aber gründlich überprüft. Der Kritiker maße es sich an, hoch über Leser und Autor zu stehen, indem er mit leeren Begriffen und Regeln umgehe und das betrügerische Spiel spiele, er wäre selbst der Verkünder der Gesetze. Der Hochmut der Kritiker sei es also, der den größten Schaden in der literarischen Welt anrichtet. Für Hamann ist es der Leser selbst, der als Anfang und Grund einer Hoffnung die Verhältnisse in der literarischen Welt wenden kann. Der Autor dient dem Leser, genauso wie der Prediger dem Laien. Und in diesem Zusammenhang wird dem Kritiker kein Platz mehr gelassen. Der Kunst-Richter wird mit seinem Hochmut des "Bischofs" samt jener "pharisäischen" Gesetzesdienerei der Ästhetik von dem wahren Richter, der aus den 'Steinen der literarischen Welt' die lebendigen Leser machen wird, vertrieben. Hierin läßt sich eine bis in die profanste Sphäre eindringende Botschaft der Reformatoren erkennen. Hamann betont nämlich auf das stärkste jenes Prinzip des "allgemeinen Priestertums aller Gläubigen", auch in Ästhetik und Literatur. Er fordert, daß die Aufgabe der Hermeneutik nun in den Vordergrund gerückt und jedem zugänglich gemacht werden soll.
26. Jedes Werk Hamanns hat dialogischen Charakter und enthält die Einladung zum Dialog, die sich u.U. zur kühnen Herausforderung wandelt. Diese Herausforderung kann provokativ wirken für denjenigen, der mit ihr gleichgültig oder mit lauter Vorurteilen behaftet umgeht. Sie schreckt den anmaßenden Versuch im voraus ab. Für den richtigen Leser spricht Hamann aber leidenschaftlich durch seine mimische Sprechweise und will ihn zur Selbstfindung der Wahrheit bringen.
27. Vgl. meinen Aufsatz: Kritik und Bewahrung. "Metakritik" als philologisch-hermeneutische Haltung gegenüber der Tradition. In: Language/ Information/ Text, The University of Tokyo, Graduate Division of International and Interdisciplinary Studies, Language and Information Sciences, Vol. 1, 1993-1994, S. 55ff.
28. Es handelt sich für Hamann also keineswegs um die Konfrontation zwischen Christentum und Judentum, sondern er kritisiert Mendelssohns Verfälschung des Judentums und zwar um Mendelssohns willen, weil dieser durch das Abstrahieren von der jüdischen Heilsgeschichte sich selbst entfremde. Für Hamann ist aber "die typische Bedeutung des Judentums" durch nichts zu ersetzen. Denn auch das Christentum setzt die prophetische Tradition des Judentums voraus. Das Judentum als Heilsgeschichte macht erst die Basis des Christentums aus.
29. N III 229, 15.
30. N III 229, 39.
31.@"Ein Herr, der zu Lügen Lust hat, des Diener sind alle gottlos." (Spr. 29, 12) Mit diesem Wort weist Hamann darauf hin, daß "die Sophisterey" der Herrschaft nicht nur Mendelssohns Trennung von Handlung und Gesinnung, sondern den "Misbrauch der Sprache" überhaupt verursacht hat. Das aufklärerische Argument gegen den Sprachmißbrauch wendet Hamann auf die Aufklärung selbst an. Dadurch zog er den hellen Schleier vor der Aufklärung weg, durch den sich das Zeitalter als vermeintlich "gesund" zeigte. Hamanns Kritik an der Sprachverwirrung der Berliner Aufklärung gründet sich auf die biblische Einheit von Sprache und Geist. Von diesem Standpunkt aus tritt er als "Metacriticus", als Aufklärer der Aufklärer hervor. Für Hamann liegt das größte Unheil der Berliner Aufklärung darin, daß dort der "natürliche Gebrauch der menschlichen Vernunft und Sprache" verachtet und "das innere und äußere Band aller Geselligkeit" wie bei Mendelssohn heuchlerisch gelockert wird. Das geschieht nach Hamann unter dem Einfluß einer "cynisch- sodomitischen Mundart" des Königs, des "Widersacher[s] deutscher Aufrichtigkeit und Redlichkeit".
32. Gaier, Ulrich: Gegenaufklärung im Namen des Logos: Hamann und Herder. In: J. Schmidt (Hrsg.), Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989, S. 267.
33. Vgl. Tokiwa, Kenji: Kritik - Metakritik - Zeugnis. In: Tojo, Bd. 19, Tokyo 1990, S. 63f.
34. N III 293, 19.
35. Hamann nannte seine Haltung zur Aufklärung, nämlich seine Kritik der Kritik, erst später "metakritisch". Seine Intention, sich zur aufklärerischen Kritik wiederum kritisch zu verhalten, war aber schon seit der frühesten Phase seines Schaffens in allen Schriften implizit enthalten. Sein "metakritischer" Weg, der nicht von einer "verstiegenen Hyperkritik", sondern vielmehr von der "Selbstkritik" ausgegangen ist, ist dann in seinem Schaffen bis zu seiner letzten Konsequenz verfolgt worden, wobei die emanzipatorischen Forderungen der Aufklärung gründlich kritisiert wurden. Hamann deckte nämlich auf, daß eben in diesem emanzipatorischen Vernunftanspruch der Aufklärung ihre eigenen Bedürfnisse der Befreiung steckten. Hamann stellte sich keineswegs als bloßer Gegenaufklärer dar und setzte bei seiner Aufklärungskritik die traditionelle Glaubenslehre in keinem Fall ohne Kritik voraus,
sondern Hamanns Metakritik setzte jedesmal eine Kritik voraus und stellte die kritiklose Authentizität jener Positionen, nämlich ihre Behauptungen der Selbstsicherheit, in Frage. In diesem Sinne wollte er mit der Selbstkritik seiner Zeit, mit der Aufklärung der Aufklärung verfahren. Er stand somit völlig außerhalb des damaligen Gegensatzes von "Offenbarungsglaube und Vernunftautonomie", und in diesem Sinne war seine Stellung von den allgemeinen Tendenzen der Zeit gründlich verschieden.
36. Goethe, J. W.: Werke, Weimar 1877ff., IV Bd. 6, S. 209.
37. Jørgensen: Hamanns hermeneutische Grundsätze, S. 222.
38. Vgl. Herder, Johann Gottfried: Sämtliche Werke, hrsg.v. B. Suphan, 33Bde. Berlin 1877-1913, Bd.IX, S. 251f.
39. Sach. 12, 2f.; 12, 6.
40. Text in: Wild, Reiner: "Metakriticus bonae spei". Johann Georg Hamanns "Fliegender Brief". Einführung, Text, Kommentar. Bern/Frankfurt am Main 1975, S. 344.
41. N III 319, 30.
42. Sach. 12, 2.
43. Sach. 12, 6.
44. Jes. 24, 10; 25, 2; 26, 1ff.; Vgl. Hanhart, Robert: Die jahwefeindliche Stadt. In: Beiträge zur alttestamentlichen Theologie, Festschrift für Walther Zimmerli zum 70. Geburtstag, hrsg. v. H. Donner, Göttingen 1977, S. 160.
45. N III 397, 14.
46. N III 398, 27.
47. Hamanns kulturhermeneutischer Umgang mit den prophetisch-apokalyptischen Schriften hat viel mit der Hermeneutik der frühen Apokalyptiker gemein. Der prophetische Stil wurde bei den früheren Apokalyptikern zur eigentümlichen Bilderrede entwickelt, indem sie die einmal gescheiterte Prophetie in ihrer neuen, veränderten Situation, meistens in der Not, auszulegen versuchten. Der geheime Charakter der Offenbarung wurde verstärkt, indem die endzeitlich-universale Vollendung allein durch Gottes Hand immer stärker erhofft wurde. Was bei der Feststellung einer solchen Entwicklung einen Leitfaden bieten könnte, wäre die Problematik des apokalyptischen Stilbewußtseins, die mit dem Wandel des Geschichtsverständnises untrennbar verbunden ist. Die Apokalyptiker glaubten nämlich in einem völlig veränderten Zeitalter zu leben, das von ihnen eine neue Auslegung der Prophetie verlangte. Obwohl die Apokalyptiker, wie früher die klassischen Propheten, politisch-sozial engagiert waren, hatten sie nicht mehr dieselbe Wirklichkeit vor sich, die der Gegenstand der konkreten Schelt- bzw. Drohworte des Propheten sein konnte. Die einzelnen politischen Reformversuche oder die traditionell-religiösen Hoffnungsvisionen schienen ihnen zu seicht und optimistisch, weil solche Versuche das verderbte Verhängnis der menschlichen Sündengeschichte immer noch nicht richtig erkannten. In Notzeiten versuchten die frühen Apokalyptiker die prophetischen Schriften noch einmal im Horizont der Leidens- und Sündensolidarität auszulegen und die neue Perspektive der Hoffnung direkt, d.h. mit dem ihnen gegebenen Geist der Auslegung, aus der dunkel gewordenen Ökonomie Gottes herauszulesen. Dort entstand der mit den vielen geheimen Bildern beladene Stil der Apokalyptik, der die Reste der herkömmlichen prophetischen Tradition aufs neue zur universalen, schöpfungstheologischen Eschatologie verband. Hamanns apokalyptisch-sibyllinische Sprache kann auch in diesem Zusammenhang verstanden werden, obwohl er mit seinem Christozentrismus über die alttestamentlich-apokalyptische Tradition hinausgeht. In Bezug auf die biblisch-prophetische Tradition steht er parallel zu den frühen Apokalyptikern. Trägt doch sein Cento-Stil das "apokalyptische" Bewußtsein des in der späteren Zeit Geborenen, der im Auslegen der vorangegangenen Prophetie und in deren Anpassung an die Gegenwart die eigene Sendung zu finden glaubt. Als "apokalyptischer" Hermeneut übernimmt er die Aufgabe einer "Auslegung der Auslegung". Es handelt sich für ihn nämlich nicht bloß um die Auslegung der biblisch-prophetischen Schriften, sondern um die Auslegung der gegenwärtigen Ereignisse im Lichte der prophetisch-apokalyptischen Hoffnungsperspektive. Wegen der politischen Unterdrückung im Gewand des aufklärerischen Absolutismus und der Verwickeltheit der religiös-intellektuellen Voraussetzungen im Luthertum ist ihm das politisch-direkte Engagement im Sinne der Tatprophetie verweigert, und die Zukunft kommt ihm, anders als bei der Erwartung der Aufklärer, dunkel vor. In dieser politisch-religiösen Situation geht es Hamann um das Wiederauslegen der biblischen und protestantischen Tradition und die Verkündigung der wahren Hoffnung aus der reformatorischen Alleinherrschaft Gottes. Für Hamann bedeutet die Auslegung somit die moralisch-existentielle Handlung eines Autors in der späteren Zeit gegenüber den Ereignissen der veränderten politisch-religiösen Verhältnisse. In diesem Sinne ist seine Autorschaft samt seinem Stil als "Ereignisapokalyptik" zu charakterisieren, als ein neues Engagement für die Gegenwart in der eschatologisch-apokalyptischen Hoffnung. Vgl. Kawanago, Yoshikatsu: "Das babilonische Jerusalem". J. G. Hamanns Stellung zur eschatologisch-apokalyptischen Sprache in seiner späten Schaffensphase. In: The Proceedings of the Department of Foreign Languages und Literatures, College of Arts and sciences, University of Tokyo, Vol. XLI, No. 1, 1994, S. 124ff.
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@@@@ Anhang:@Hamanns Verhältnis zur pietistischen Hermeneutik
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@ Wenn die Neologie die Grundthese des Christentums und die Lehren der aufklärerischen Zeitbewegung zu vermitteln sucht, läßt sie neben dem rationalen Gesichtspunkt psychologische und moralische Orientierungen maßgebend werden. Dabei ist der Einfluß des Pietismus nicht zu verkennen. Das legt nahe festzustellen, wie Hamann sich zum hermeneutischen Gedanken des Pietismus verhält.
@ Eine Bemerkung aus seiner Londoner Zeit scheint uns die Antwort darauf zu geben: "Die Nothwendigkeit, uns als Leser in die Empfindung des Schriftstellers, den wir vor uns haben, zu versetzen, uns seiner Verfassung so viel möglich zu nähern, die wir durch eine glückliche Einbildungskraft uns geben können, zu welcher uns ein Dichter oder Geschichtschreiber so viel möglich zu helfen sucht, ist eine Regel, die unter ihrer Bestimmung ebensonötig als zu anderen Büchern ist." (N I 8)@Die Mitteilung wird zuerst von der "Empfindung" des Verfassers der Geschichtsschreibung bestimmt. Und nur bei demjenigen, der dieselbe Empfindung hat, kann diese Mitteilung eine Resonanz finden. Denn die Geschichte wird nur dann wieder lebendig und fängt an zu tönen, wenn man sich dazu mit all seiner "Empfindung" affektiv verhält. - Wenn man so einfach weiter paraphrasiert, klingt es wie jene pietistisch-subjektive Forderung der Einfühlung. Das stimmt aber wenig mit dem Sachverhalt überein. Das ist es auch nicht, was Hamann hier meint.
@ Bei der typologischen Auslegung beschränkt sich Hamann nicht auf die Bibel. In seiner Erstlingsschrift "Sokratischen Denkwürdigkeiten" nimmt er z.B. Sokrates, einen Heiden, als Typus und macht die Geschichte an sich zum Zentralthema der Hermeneutik. Dort sagt er: "Die Unwissenheit des Sokrates", d.h. sein entschlossenes Festhalten an der Endlichkeit, sei eben "Empfindung". (N II 73) Diese "Empfindung" hat in ihrem Zusammenhang weder mit einer methodischen Forderung noch mit einer psychologischen Beschreibung etwas zu tun. Es handelt sich dabei einzig um die Frage, wie man einer zeitlich entfernten Person wie Sokrates mit seiner ganzen Existenz begegnet. Es steht zwar fest, daß für Hamann die sinnschöpfende produktive Aktivität des Subjektes ein wichtiges Moment der Auslegung ist. Denn die Mitteilung der geschichtlichen Wahrheit ist immer situationsgebunden und erhält je nach der Situation des Teilnehmers ihren Leib und ihr Kleid. Hamann weist aber mit dem Wort "Notwendigkeit" vielmehr auf ein glückliches Ereignis, das dem Subjekt des Auslegens von außen geschenkt wird. Das bezeugt Hamann selbst in den "Denkwürdigkeiten": "Sokrates scheint von seiner Unwissenheit so viel geredt zu haben als ein Hypochondriaker von seiner eingebildeten Krankheit. Wie man dies Übel selbst kennen muß um einen Milzsüchtigen zu verstehen und aus ihm klug zu werden; so gehört vielleicht eine Sympathie der Unwissenheit dazu von der sokratischen einen Begrif zu haben." (N II 70)@Der Mensch ist jeweils schon im voraus in seine Situation hineingewebt und immer davon abhängig, wobei er sich zu seiner Zeit, der Natur der Empfindung entsprechend, passiv verhält. So ereignet sich jene mit-empfindende Begegnung in der Geschichte schließlich und endlich als "Mit-leiden". Dies stimmt bei Sokrates auf besondere Weise. Die Sym-pathie im Sinne des existenziellen Mitleidens ist es, die dabei eine Mitteilung ermöglicht und verwirklicht, indem sie die Distanz der Zeit suspendiert und konkrete Lebenssituationen durch das leidende Pathos als "gleichzeitig" miteinander verbindet. Eben auf dieser existenziellen Sympathie beruht Hamanns hermeneutischer Standpunkt.
@ Die Wendungen "Empfindung" sowie "Sympathie" lassen uns zwar zuerst vermuten, Hamann treibe eine pietistisch-subjektive Hermeneutik, wobei solche psychologischen Kategorien das Verständnis gewährleisten sollten. Aber das ist nur eine oberflächliche Übereinstimmung. Hamanns Typologie, die in der Faktizität des Leidens wurzelt, ist eher als existenziell-ontologisch zu charakterisieren. Sie gründet sich nämlich nicht auf die sich applizierend sinnschöpfende subjektive Tätigkeit des Subjektes, sondern auf die zum Menschen sich sprachlich verhaltende einheitliche Struktur der Wirklichkeit (Heilsgeschichte). Das läßt sich in seinem Verhältnis zu Bengel deutlich sehen.
@ Bengel gibt in der Vorrede zu seiner Handausgabe des Neuen Testaments 1738 sein hermeneutisches Prinzip an. Hamann zitiert den ganzen Satz in einem Brief an seinen Bruder und gibt dazu eine kurze, aber wichtige Anmerkung: "Er hat einen glücklichen Ausdruck in Sinnsprüchen; einer der seinigen ist gewesen: Te totum applica ad textum: rem totam applica ad te. Es ist ein hysteron proteron in dieser Sentenz. Das erste muß das letzte". Bengels Forderung zur Nutzanwendung, der Leser solle sich auf die biblischen Berichte soteriologisch beziehen, stimmt Hamann zu, aber mit einem Vorbehalt. Er kehrt den Satz um und meint damit, daß der Leser im voraus von der Sache gefesselt werden muß, bevor er sich zum Text hinwendet. Das soll heißen, daß das Gefangenwerden durch den Geist dem Verständnis des Textes vorangeht. Es ist nicht zu verkennen, daß durch Hamanns Umkehrung des Bengelschen Satzes der Schwerpunkt anders, nämlich auf die "res" verlagert wird. Mit der "ganzen Sache" ist zweifellos die biblische Heilsgeschichte gemeint. Die "Sache" in den biblischen Berichten einerseits, andererseits aber auch das je einmalige Ereignis im persönlichen Leben werden dadurch an die erste Stelle gesetzt. Die Faktizität des geschichtlichen Vorbildes, die wir oben beschrieben haben, wird hier sicher angedeutet. Das typologische Verständnis wird nun als wichtigster Ansatz erkannt, der sich für einen einmal ereignet und einen zur Auslegung anleitet. Dabei ist aber zu betonen, daß das einzelne Ereignis bezogen auf ein Individuum sowie auf das Menschengeschlecht von demselben Geist getragen wird wie die Geschichte der Bibel.
@ Hamann stimmt zwar zunächst der Bengelschen Forderung zu, daß das Subjekt dem Text appliziert werden solle, was dann die geistige Dimension der Auslegung eröffnen könne. Aber in der Tat weist er darauf hin, daß die Applikation von Anfang an als Ereignis, als Gegebenheit, schon von der Sache her verwirklicht wird, die dann die weitere Auslegung ermöglichen soll. Dabei unterstreicht Hamann den Heiligen Geist als eigentliches Subjekt der Applikation aufs stärkste. Die sinnschöpfende Aktivität des Lesers muß also eine solche sinngebende, einheitliche Struktur der Wirklichkeit voraussetzten. Der Ausleger wird also um so mehr auf den einheitlichen Sinn des Textes verpflichtet, was vor allem die pneumatologische Auslegung gewährleisten kann.
@ Hamann setzt sich sowohl der neologischen als auch der pietistischen Hermeneutik entgegen, wenn sie, offenkundig oder latent, nur das menschliche Subjekt als Ausgang der Hermeneutik anerkennen. Das ist für Hamann sowohl ein Ausweichen vor der reformatorischen Tradition als auch ein Selbstverlust der Philologie.
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In: Literatur und Kulturhermeneutik, hrsg. v. der Japanischen Gesellschaft für Germanistik, München(indicium) 1996, S.37-57.